Drei große deutsche Außenpolitiker: Metternich – Adenauer – Kissinger
Der 100ste Geburtstag von Henry Kissinger am 27. Mai lässt uns über historische Vergleiche nachdenken. Wen könnte man Kissinger an die Seite stellen? In der jüngeren deutschen Geschichte gibt es nach meiner Überzeugung nur zwei Personen, die hier zu nennen sind: Metternich und Adenauer.
Clemens von Metternich wurde 1773 in Koblenz in eine Familie hoher Beamter und Adeliger des Heiligen Römischen Reiches geboren. Von 1797 bis 1848 war er Botschafter, Außenminister und Staatskanzler in habsburgischen Diensten. Für einen Rheinländer war das keine Besonderheit, weil Österreich als deutsch galt, jedenfalls bis zur Gründung des Deutschen Kaiserreiches im Jahr 1870, 11 Jahre nach Metternichs Tod.
Wenige von Metternichs Zeitgenossen konnten und wollten begreifen, wie sehr die Französische Revolution die damalige europäische Staatenwelt sowie vor allem deren innere gesellschaftliche Ordnung umgestürzt hatte, und das nicht nur in Frankreich selbst. Dieses Chaos und seine radikal divergierenden politischen Utopien zu bändigen und wieder eine stabile Ordnung herzustellen, war nicht nur eine außenpolitische, sondern vor allem eine intellektuelle Herausforderung, die Metternich wie kaum ein Zeitgenosse erfasste und zur Grundlage seiner Politik machte. Er organisierte die Niederlage des napoleonischen Expansionismus und entwarf die staatlichen Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress. Fortan sollten die großen Mächte „im Konzert“, also im Konsens agieren, um revolutionäre Ausbrüche einzudämmen und notfalls militärisch zu bekämpfen. Dies gelang bis zu den europäischen Revolutionen von 1848/49, die rasch beendet wurden. Aber auch danach konnten viele internationale Krisen durch die Großmächte diplomatisch gelöst werden, ehe es zur Katastrophe von 1914 kam. Metternichs Werk überdauerte mehrere Revolutionen ebenso wie die italienischen und deutschen Einigungskriege zwischen 1859 und 1871.
Wenige von Metternichs Zeitgenossen konnten und wollten begreifen, wie sehr die Französische Revolution die damalige europäische Staatenwelt sowie vor allem deren innere gesellschaftliche Ordnung umgestürzt hatte, und das nicht nur in Frankreich selbst.
In der Historiographie und insbesondere in der Publizistik ist man nicht müde geworden, Metternich als innenpolitischen Reaktionär und als gescheiterten Diplomaten darzustellen. Doch mit diesen Fehleinschätzungen und Polemiken hat die großartige Biographie von Wolfram Siemann (erschienen 2016) gründlich aufgeräumt, zumal sie erstmals auf der Basis des gesamten schriftlichen Nachlasses verfasst wurde. So ziemlich alle Anschuldigungen erwiesen sich als falsch, aus dem Kontext gerissen oder zumindest historisch unfair. Tatsächlich legte Metternich wie kaum ein anderer das geistige und politische Fundament für das reformierte bürgerliche, zu großen Teilen aber noch vom Adel gelenkte 19. Jahrhundert.
Tatsächlich legte Metternich wie kaum ein anderer das geistige und politische Fundament für das reformierte bürgerliche, zu großen Teilen aber noch vom Adel gelenkte 19. Jahrhundert.
Der zweite große deutsche Außenpolitiker war Konrad Adenauer (1876-1967), ebenfalls geborener Rheinländer, der aber nicht wie Metternich die große Diplomatie von Kindebeinen an lernte, sondern aus dem Kleinbürgertum stammend als braver Kommunal- und Parteipolitiker langsam aufstieg, um im hohen Alter, nach dem Untergang des Hitler-Reiches, Bundeskanzler zu werden. Als entschiedener Gegner der Nationalsozialisten war dieser Kölner Katholik ein zutiefst überzeugter Demokrat, aber mit 73 Jahren kaum für eine längere politische Karriere prädestiniert. Was für ein Irrtum! Er gewann vier Bundestagswahlen, davon eine mit absoluter Mehrheit für seine Partei, und blieb 14 Jahre im Amt.
Vergleichbar mit Metternich hatte Adenauer besser als die meisten seiner Zeitgenossen begriffen, welchen Bruch die NS-Herrschaft für Deutschland und für das gesamte Staatensystem bedeutete, ein Bruch übrigens, der noch heute vielerorts spürbar ist. Die meisten Deutschen konnten weder das schreckliche Ausmaß, noch die fatale Langzeitwirkung der deutschen NS-Verbrechen ermessen. Sie verstanden nicht, dass eine Rückkehr Deutschlands als europäische Großmacht für alle Zeit unmöglich war. Somit lag Adenauers historische Größe nicht allein darin, das westliche Deutschland in ein Bündnis mit den westlichen Siegermächten geführt zu haben und dabei die deutsche Teilung zu akzeptieren – jedenfalls vorerst. Es war vielmehr seine Beharrlichkeit, gegen den mehrheitlichen Willen der Deutschen diesen Weg zu gehen, denn es gab schlichtweg keinen anderen, um wenigstens der Hälfte des früheren deutschen Staatsgebietes dem sowjetischen Einfluss zu entziehen und vielen Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem Osten ein Leben in Freiheit zu ermöglichen. Übrigens traf auch Adenauers große Unterstützung für Israel auf massiven Widerstand in der deutschen Bevölkerung, selbst in seiner eigenen Partei. Das Angebot einer finanziellen Wiedergutmachung wäre beinahe im Parlament gescheitert.
Vergleichbar mit Metternich hatte Adenauer besser als die meisten seiner Zeitgenossen begriffen, welchen Bruch die NS-Herrschaft für Deutschland und für das gesamte Staatensystem bedeutete, ein Bruch übrigens, der noch heute vielerorts spürbar ist.
Ein Außenpolitiker ganz anderen Zuschnitts war und ist Henry Kissinger, dessen erste Prüfungsarbeit an der Harvard-Universität übrigens vom politischen Genie Metternichs handelte. Ganz ähnlich wie dieser sah Kissinger, dass der lange und brutale Krieg nicht in einer Abrechnung von Sieg und Niederlage endete, sondern einen weltpolitischen und intellektuellen Scherbenhaufen hinterließ. Die Sowjetunion war jetzt zur kommunistischen Weltmacht geworden; die USA waren zwar mächtig, aber innerlich unentschlossen, welche Rolle sie künftig spielen sollten; die Europäer lagen wirtschaftlich am Boden und kämpften erfolglos um den Erhalt ihrer Überseebesitzungen. Durch neue Waffensysteme, vor allem durch Atomwaffen sowie interkontinentale Trägersysteme, wurden Kriege noch riskanter als bisher, jedenfalls zwischen den Großmächten.
Ganz ähnlich wie dieser sah Kissinger, dass der lange und brutale Krieg nicht in einer Abrechnung von Sieg und Niederlage endete, sondern einen weltpolitischen und intellektuellen Scherbenhaufen hinterließ.
Als Diplomat spielte Kissinger eine wichtige Rolle bei den Abschlüssen von sowjetisch-amerikanischen Rüstungskontrollverträgen, bei der Beendigung des Vietnamkrieges, bei der teilweisen Stabilisierung des Nahen Ostens sowie bei der Rückkehr des kommunistischen China auf die Weltbühne, damals vor allem als Gegengewicht zur Sowjetunion. Aber von einer historisch einzigartigen operativen Rolle wie bei Metternich und Adenauer lässt sich hier nicht sprechen, weil die USA nach 1945 eine Vielzahl von großen strategischen Köpfen hervorbrachten. Einzigartig ist hingegen die intellektuelle Brillanz und profunde Einsicht Kissingers in weltpolitische Zusammenhänge, Strategien, Konstellationen und Dynamiken, die sich über den Zeitraum von vielen Jahrzehnten immer wieder als anregend und zumeist als zutreffend erwiesen. Davon zeugen seine zahlreichen Bücher und anderen Schriften, wobei Kissinger im hohen Alter noch zur Feder griff, um über die Auswirkungen der chinesischen Weltmacht (nach dem Untergang des sowjetischen Rivalen), aber auch des Internets und der künstlichen Intelligenz zu räsonieren. Während sich Generationen von jüngeren Professoren in Polemiken, in wokeness und in szientistischen Konstrukten von internationaler Politik verzettelten, hat Kissinger nie darauf verzichtet, für ein großes Publikum zu schreiben oder sich in Interviews zu aktuellen Fragen zu äußern – ohne dabei auf den Habitus eines alteuropäischen Intellektuellen zu verzichten.
Während sich Generationen von jüngeren Professoren in Polemiken, in wokeness und in szientistischen Konstrukten von internationaler Politik verzettelten, hat Kissinger nie darauf verzichtet, für ein großes Publikum zu schreiben oder sich in Interviews zu aktuellen Fragen zu äußern – ohne dabei auf den Habitus eines alteuropäischen Intellektuellen zu verzichten.
In seinen späten Jahren hat sich Kissinger immer wieder über seiner Prägung und seine dramatischen Jugenderlebnisse als deutscher Jude geäußert. Seine unmittelbare Familie konnte in die USA entkommen, aber viele aus der weiteren Verwandtschaft verloren in der Shoah ihr Leben. Kissinger, der 1923 im bayerischen Fürth zur Welt kam, wurde nach seiner Flucht amerikanischer Soldat und Staatsbürger. Aber er blieb zugleich eine der herausragenden Figuren jenes jüdischen Deutschlands, das nach 1933 nur noch in der Emigration weiterlebte. Deshalb darf er als großer Deutscher auf dem Gebiet des außenpolitischen und strategischen Denkens gelten.