Eine „Zeitenwende“ in der deutschen Energiepolitik?
Kurz nach Beginn des Ukrainekrieges verkündete die deutsche Regierung eine „Zeitenwende“ in der deutschen Sicherheitspolitik, die zu massiven Waffenlieferungen an Kiew, zu einer Erhöhung des deutschen Militärhaushalts und zur Stationierung von deutschen Soldaten an der NATO-Ostgrenze führte. Doch dieser Krieg erfordert auch eine große Umstellung in der deutschen Energiepolitik, weil Putins Russland kein Gas mehr liefert und auch mit einem Stopp der Lieferungen von Öl und Kohle droht. Vor dem 24. Februar 2022 bezog Deutschland 55 Prozent seines Bedarfs an Erdgas aus Russland, 50 Prozent waren es bei der Kohle und 30 Prozent beim Erdöl.
Die deutschen Probleme wären schneller und besser lösbar, wenn sich die Regierung an den Realitäten des Marktes orientieren und alle verfügbaren Formen der Energiegewinnung nutzen würde. Aber das geschieht nicht, weil sich die deutsche Politik seit mehr als 20 Jahren darauf konzentriert, die zivile Verwendung von Atomenergie abzuschaffen, überall Windräder und Solarpanele aufzustellen und die deutsche Wirtschaft zu „decarbonisieren“. Selbst die deutschen Erdgasvorkommen werden nicht genutzt, weil man mit Fracking arbeiten müsste, das für die Politiker „inakzeptabel“ ist. Gleichwohl wird Fracking-Gas importiert.
Während sich also Berlin in der aktuellen Ukrainekrise militärisch an den USA und an der NATO orientiert, verharrt es bei der Energiepolitik auf seinem ideologischen Kurs. Der kommende Winter wird zeigen, ob oder wie lange die Regierung diesen deutschen Sonderweg durchhält, denn es ist zu befürchten, dass der Ukrainekrieg und damit der Stopp russischer Energielieferungen noch mehrere Jahre dauern wird. Ein Zurück zur deutsch-russischen Energiepartnerschaft aus der Zeit vor dem 24.2.2022 kann es nicht geben.
Während sich also Berlin in der aktuellen Ukrainekrise militärisch an den USA und an der NATO orientiert, verharrt es bei der Energiepolitik auf seinem ideologischen Kurs.
Experten hatten bereits lange vor dem Ukrainekrieg davor gewarnt, dass die deutsche „Wende in der Energiepolitik“ nicht funktionieren kann, weil die erneuerbaren Energien (Wind, Sonne, Wasserkraft, Biomasse) bei weitem nicht ausreichen, um den Strombedarf zu decken. Es wird zumeist vergessen, dass sich der Strombedarf durch die Umstellung auf Elektromobilität (Autos, LKW-Verkehr, Busse) sowie durch den fortschreitenden Einbau von Klimaanlagen in modernen Wohn- und Bürogebäuden dramatisch erhöhen wird. Auch die Umstellung von Heizungen und der riesige Energiebedarf der Industrie, so die Experten, seien nicht realistisch kalkuliert.
Experten hatten bereits lange vor dem Ukrainekrieg davor gewarnt, dass die deutsche „Wende in der Energiepolitik“ nicht funktionieren kann, weil die erneuerbaren Energien bei weitem nicht ausreichen, um den Strombedarf zu decken.
Man kann darüber streiten, wann diese Entwicklung einsetzte. In einem Energiegesetz aus dem Jahr 2000 hieß es noch, man wolle eine „nachhaltige Entwicklung der Energieversorgung … ermöglichen (und) fossile Energieressourcen … schonen …“. Doch im gleichen Jahr wurde der „Ausstieg aus der Atomenergie“ beschlossen, die damals etwa ein Drittel der deutschen Stromproduktion ausmachte. Das geschah unter einer rot-grünen Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder, gegen heftige Proteste der bürgerlichen Parteien. Seine Nachfolgerin, Bundeskanzlerin Angela Merkel, war zunächst eine Befürworterin der Atomkraft, vollzog aber 2011 eine radikale Abkehr, die sie mit dem Atomunfall von Fukushima begründete, obwohl dabei nur drei Personen den Tod fanden, während ein gewaltiger Tsunami, ausgelöst durch ein Erdbeben, über 22.000 Menschenleben forderte. Übrigens waren diese drei Opfer auf einstürzende Gebäude auf dem Gelände der Atomkraftwerke zurückzuführen, nicht auf atomare Verstrahlung. Rückblickend sehen wir, dass Japan seine Atomkraftwerke nur vorrübergehend abschaltete und für 2030 plant, 20 bis 22 Prozent des Strombedarfs aus Atomkraft zu decken. Vor Fukushima waren es 30 Prozent.
Doch in der öffentlichen Wahrnehmung Deutschlands herrschte der Eindruck, die Tausenden von Tsunami-Toten seien irgendwie mit der Kernschmelze von Fukushima verbunden. Deshalb seien, wie Merkel im Parlament sagte, „die Risiken der Kernenergie nicht beherrschbar“. Völlig vergessen blieb die Tatsache, dass es in den deutschen Atomkraftwerken noch nie einen tödlichen Unfall gegeben hatte. Die vorzeitige Schließung von Atomkraftwerken kostet den deutschen Staat viele Milliarden Euro an Entschädigung für die Eigentümer, deren Investitionen nun weit weniger rentabel sind.
Für Merkel war diese Entscheidung profitabel, weil die rot-grünen Parteien mit einem Schlag ihr wichtigstes politische Thema, die Fundamentalopposition gegen die Atomkraft, verloren. Aber langfristig richtete sich die politische Stimmung in den deutschen Medien gegen die gesamte Politik der bürgerlichen Parteien, je mehr diese an rot-grünen Ideen übernahmen – von der „Gendergerechtigkeit“ bis zur „Energiewende“. Am Ende Ihrer Kanzlerschaft hatte die Merkel-Partei nahezu die Hälfte ihrer Wählerschaft verloren.
Die deutsche „Energiewende“ sollte darin bestehen, „Brückentechnologien“ zu favorisieren, um den Weg in eine carbonfreie Welt zu bereiten. In der Realität wurde jedoch der Ausstieg aus der Braunkohle auf das Jahr 2038 verschoben und die verbleibende Lücke in der Stromproduktion mit russischem Erdgas geschlossen. Der Ausbau von Wind- und Solarenergie kostete das 40-fache von dem, was man den Wählern versprochen hatte. Zudem entstand eine neue Abhängigkeit von China, weil die meisten Anlagen von dort geliefert werden. Die deutsche Produktion von Solarpanelen verlor den Konkurrenzkampf. Die aktuell 28.000 Windräder sind nur schwach ausgelastet. Im Norden Deutschlands sind es 30 Prozent, im Süden sogar nur 20 Prozent. Kurzum, mit Wind und Sonne lässt sich das große Defizit in der deutschen Stromproduktion nicht kompensieren. Deshalb leidet Deutschland im internationalen Vergleich unter sehr hohen Strompreisen. Die Folge ist eine massive Verlagerung von Industrieproduktion nach China, wo der Strom nur ein Viertel so teuer ist.
Das politische Ziel, bis 2030 den Strombedarf zu 80 Prozent aus Wind, Sonne und Biomasse zu decken, war und ist unerreichbar. Trotzdem hält die Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz daran fest, obwohl Deutschland noch weit davon entfernt ist, die ausbleibenden russischen Energielieferungen zu kompensieren. Die russischen Gaslieferungen wurden im Juni eingestellt, die Kohleimporte im August. Für Januar 2023 ist ein Embargo beim Erdölimport vorgesehen. Allerdings ist fraglich, ob auch der indirekte Energiehandel mit Russland abgeschnitten wird, denn russisches Gas kommt beispielsweise über China nach Europa – als Flüssiggas (LNG) und zum zehnfachen Preis, den China bezahlt.
Das politische Ziel, bis 2030 den Strombedarf zu 80 Prozent aus Wind, Sonne und Biomasse zu decken, war und ist unerreichbar.
In jedem Fall werden die deutschen Energieimporte eingeschränkt sein und die Preise stark ansteigen. Zusätzlich müssen Kohlekraftwerke reaktiviert werden, deren schädliche Emissionen so hoch sind, dass Umweltgesetze außer Kraft gesetzt werden. Weil die drei letzten Atomkraftwerke im April 2023 vom Netz genommen werden, erfolgt die deutsche Stromerzeugung mehr und mehr mit Kohle und Gas. Zwar sind die deutschen Gasspeicher seit Oktober 2022 komplett gefüllt, aber das wird für den Winter nicht ausreichen. Die Regierung behauptet, wenn bei der Industrie und bei Gebäude-Heizungen 20 Prozent eingespart werden, reichen die Vorräte bis April. Ohne Einsparungen wären die Vorräte jedoch bereits im Februar erschöpft. Doch niemand weiß, ob ein strenger oder ein milder Winter bevorsteht, und die jüngst abgeschlossenen Lieferverträge werden nicht rechtzeitig helfen. Beispielsweise wird der soeben mit Katar abgeschlossene Vertrag für LNG erst 2026 wirksam und nur 3 Prozent des Bedarfs decken.
Auch die oft geforderten „europäischen Lösungen“ nutzen wenig. Die Europäische Union kann ihren Bedarf an Erdgas nur zu 11 Prozent aus eigener Produktion decken. Zwei der größten europäischen Förderländer, Norwegen und Großbritannien, gehören nicht der EU an. China hat seine Gas-Importe seit November 2021 enorm gesteigert. Jährlich werden 15 Millionen Haushalte von Kohle auf Gas umgestellt. Das treibt die Weltmarktpreise in die Höhe. Viele EU-Staaten setzen nun auf die Atomenergie, auch wenn es mindestens zehn Jahre dauern dürfte, bis die neuen Atomkraftwerke Strom liefern.
In dieser Frage hat sich Deutschland völlig isoliert und wird in der EU nur durch Österreich unterstützt. Beispielsweise will Polen, das bisher seinen Strom zu 70 Prozent aus Kohle gewinnt, mehrere Atomkraftwerke kaufen, allerdings nicht in Europa, sondern in Südkorea und in den USA. Das ist politischer Konsens quer durch die politischen Parteien. Frankreich plant sechs neue Atomkraftwerke, um die bisherige Politik einer Reduzierung von 75 auf 50 Prozent bei der Stromproduktion umzukehren. In Europa ist Frankreich in der zivilen Atomtechnologie führend und baut Anlagen in Indien, Großbritannien, Schweden und Finnland, während Deutschland seine industrielle Kompetenz auf diesem Gebiet längst verloren hat.
Um die akute Energiekrise abzumildern, will Bundeskanzler Scholz 200 Milliarden Euro „Soforthilfe“ (für zwei Jahre) zur Verfügung stellen. Damit verschärft er die Spannungen in der EU, denn rein nationale Subventionen sind nicht im Sinn der EU-Wirtschaftspolitik. Die ärmeren Mitgliedstaaten befürchten, diese Soforthilfe werde der deutschen Industrie einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.
Nun wird es in Deutschland höchste Zeit, an die Konsequenzen zu denken. Wie werden die deutschen Wähler reagieren, wenn der Strom ausfällt, die Wohnungen kalt bleiben und die Industrie stillsteht? Wird auf die „Zeitenwende“ in der Verteidigungspolitik eine Kehrtwende in der Energiepolitik folgen? Für die rot-grüne Regierung von Bundeskanzler Scholz ist das eine Machtfrage. Doch auch die bürgerlichen Oppositionsparteien können sich nicht so schnell von ihren Illusionen in der Energiepolitik befreien. Das energiepolitische Erbe von Angela Merkel wird also noch viele Jahre nachwirken.
Nun wird es in Deutschland höchste Zeit, an die Konsequenzen zu denken. Wie werden die deutschen Wähler reagieren, wenn der Strom ausfällt, die Wohnungen kalt bleiben und die Industrie stillsteht? Wird auf die „Zeitenwende“ in der Verteidigungspolitik eine Kehrtwende in der Energiepolitik folgen?