Der Ukrainekrieg – ein Friedhof westlicher Ideologien
Im fünften Monat des russisch-ukrainischen Krieges werden seine Auswirkungen immer deutlicher sichtbar. Zum einen lässt sich erkennen, dass Putins Russland in der Welt keineswegs isoliert ist. Zum anderen ist der Westen weitaus schwächer als gedacht, ideologisch verwirrt und weniger entschlossen im Handeln.
China, Indien, und eine Reihe von weiteren Staaten in Asien, in Afrika und sogar in Lateinamerika haben sich mehr oder weniger deutlich auf die Seite Putins gestellt. Damit wird fraglich, ob die vom Westen verhängten Sanktionen den politisch-militärischen Kurs von Vladimir Putin längerfristig beeinträchtigen können, denn auf kurze Frist hat diese Sanktionspolitik der USA und der Europäischen Union bereits versagt. Nun sieht es eher danach aus, als würden sich neue Allianzen und neue Handelsströme herausbilden, die Russlands Abhängigkeit vom Handel mit dem Westen erheblich reduzieren. Für die russischen Gas-, Öl- und Kohlelieferungen gibt es bereitwillige Abnehmer. Selbst die „Sonderkonditionen“ für diese Abnehmer, die bei Öl etwa 30 Prozent Rabatt betragen, kann Russland verkraften, weil die Weltmarktpreise seit Anfang 2022 erheblich gestiegen sind. Der Ölpreis liegt aktuell weit über 100 US-Dollar pro Barrel. Seit Anfang 2022 stieg der Preis für Erdgas von vier auf aktuell sechs Dollar (je MMBTU), erreichte jedoch im Juni neun Dollar und dürfte im kommenden Winter noch erheblich ansteigen.
Das heißt, Russlands Einnahmen aus dem Energieexport bleiben auf einem hohen Niveau, trotz der westlichen Sanktionen. Allerdings wird Russland einen hohen geopolitischen Preis dafür zahlen, denn China behandelt seine abhängigen „Partner“ weit weniger freundlich als es im Westen üblich ist. Nicht nur Putin will seine Macht vergrößern, sondern auch Xi Jinping, und Peking ist in einer weitaus besseren wirtschaftlichen, technologischen und politischen Position als Moskau, nicht zuletzt mithilfe von Energie-, Rohstoff- und Lebensmittellieferungen aus Russland.
Allerdings wird Russland einen hohen geopolitischen Preis dafür zahlen, denn China behandelt seine abhängigen „Partner“ weit weniger freundlich als es im Westen üblich ist.
Gewiss ist die politische Geschlossenheit des Westens gegenüber der russischen Aggression beeindruckend. Sie war zweifellos unerwartet, im Westen selbst aber auch im Kreml. Damit erhielt die NATO gleichsam ein neues Leben und eine riesige neue Aufgabe: die militärische Absicherung ihrer osteuropäischen Mitglieder. Das gleiche gilt für die massiven Waffenlieferungen an die Ukraine und für finanzielle, logistische und andere militärische Hilfe sowie für die Versorgung mit geheimdienstlichen Informationen, für die Unterstützung in der elektronischen Kriegführung und bei der Cyber-Abwehr.
Aber es gibt empfindliche Lücken. Die Türkei ist schwer von ihrem Putin-freundlichen Kurs abzubringen. Einige europäische Staaten, beispielsweise Ungarn, sind zu 100 Prozent von russischen Gaslieferungen abhängig und können auf absehbare Zeit nicht umsteuern. Frankreich reaktiviert einige Kohlekraftwerke, allerdings mit russischer Kohle. Und die Atomkraftwerke in Tschechien, Ungarn, in der Slowakei und in Finnland werden mit Uran von Rosatom, also aus Russland, betrieben. Vor allem aber kann Russland jederzeit seine Lieferungen von Erdöl, Erdgas, Kohle, Uran und anderen Bodenschätzen einstellen, wofür die westlichen Staaten bisher keinen oder keinen ausreichenden Ersatz haben. Zusätzlich kontrolliert Putin, wenn auch nur indirekt, die Lieferungen von Getreide und anderen Produkten aus der Ukraine.
Die Türkei ist schwer von ihrem Putin-freundlichen Kurs abzubringen. Einige europäische Staaten, beispielsweise Ungarn, sind zu 100 Prozent von russischen Gaslieferungen abhängig und können auf absehbare Zeit nicht umsteuern. Frankreich reaktiviert einige Kohlekraftwerke, allerdings mit russischer Kohle.
In diesem Prozess der Umstellung und Anpassung, den der Ukrainekrieg in Gang gesetzt hat, wird erstaunlich wenig über die immateriellen Veränderungen gesprochen und geschrieben. Ich meine damit vor allem politische Grundsätze, mit denen sich Politiker und Staaten seit Jahren und Jahrzehnten identifiziert hatten. Sie gelten plötzlich nicht mehr oder werden sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Schweden gibt seine Neutralität auf, Finnland seine Bündnisfreiheit, und Deutschland will plötzlich die größte europäische Armee aufstellen. Wer hätte das erwartet?
Ähnliches passiert auf der Ebene der Parteipolitik und einzelner führender Politiker. Nehmen wir das Beispiel der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock von der Partei der Grünen, die noch im September 2021 Wahlkampf machte mit der Parole: „Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete.“ Damit waren vor allem Saudi Arabien, Ägypten, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate gemeint, weil sie in Syrien und im Jemen Krieg führten. Selbst an die Ukraine wollten die Grünen nichts liefern, obwohl Russland damals bereits 100.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze „für Manöver“ zusammengezogen hatte. Jetzt allerdings, seit dem russischen Angriff, zählt Frau Baerbock zu den größten Befürwortern von deutschen Waffenlieferungen, während Bundeskanzler Olaf Scholz und seine sozialdemokratische SPD noch immer zögern und auf keinen Fall schneller oder mehr liefern wollen als andere NATO-Staaten.
Das Gleiche passiert bei der Frage von Energieimporten aus Russland. Die selben Leute, die kurz zuvor noch die massive Energie-Abhängigkeit als Zeichen einer wunderbaren deutsch-russischen Partnerschaft deklarierten, wollen plötzlich einen totalen Stopp „für immer“ (Baerbock), obwohl bisher kein Ersatz für die russischen Erdgas-Lieferungen gefunden wurde.
Zusätzlich verschärft sich die Lage aus ideologischen Gründen, weil die deutsche Regierung aus der Not eine Tugend machen will. Der Mangel an Öl und Erdgas soll jetzt die „Energiewende“ beschleunigen. In kurzer Frist soll nun die „Dekarbonisierung“ von Industrieproduktion, Verkehr, Heizung und Stromerzeugung erfolgen. Während jedoch ein rascher Ausbau der Windenergie geplant wird, reisen Regierungsvertreter in arabische Ölländer, um höhere Lieferungen bei Öl und Gas zu erbetteln. Deutschland, das bisher über keine Terminals für Flüssiggas verfügt, muss Flüssiggas über andere Staaten importieren. Dabei dürfen die drastisch erhöhten Preise keine Rolle spielen, weil ein Zusammenbruch der Energieversorgung eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe auslösen könnte.
Wie man am deutschen Beispiel sieht, sind fundamentale ideologische Konflikte entstanden zwischen einer extremen „Klimapolitik“ und der „Bestrafung Russlands“ durch einen geplanten Importstopp von fossiler Energie. Ein besonders konkretes Beispiel ist die Stromerzeugung, bei der einerseits der Einsatz von Kohle erhöht und andererseits die drei letzten deutschen Kernkraftwerke im Dezember 2022 abgeschaltet werden, obgleich sie ohne weiteres noch fünf oder mehr Jahre laufen könnten. Sie sind in gutem Zustand und beziehen ihren Uran-Brennstoff aus Nordamerika.
Wie man am deutschen Beispiel sieht, sind fundamentale ideologische Konflikte entstanden zwischen einer extremen „Klimapolitik“ und der „Bestrafung Russlands“ durch einen geplanten Importstopp von fossiler Energie.
Hier geht es um ein Tabu sozialistischer und grüner Politik, die nichts davon wissen will, dass die Europäische Union die Kernkraft offiziell als „klimaneutral“ behandelt und dass mehrere europäische Staaten neue Kernkraftwerke bauen wollen, um Öl, Gas und Kohle zu sparen. Als letztes Argument dienen den deutschen Ideologen nun die CO2-Emissionen beim Bau dieser Kernkraftwerke. Gewiss kann niemand bezweifeln, dass der hohe Verbrauch an Beton zu CO2-Emissionen führt, aber das gleiche Problem wird bei den Windrädern komplett ignoriert, wo ebenfalls riesige Mengen an Beton verbaut werden.
Kurzum, die Energiepolitik ist weitgehend zu einem Schlachtfeld von Ideologien geworden, auf dem kein Widerspruch geduldet wird, nicht einmal von ausgewiesenen Experten, die gut begründete Zweifel äußern. Zugleich wird jeder Versuch, einen demokratischen Konsens herzustellen, blockiert. Die Entscheidungen werden von Öko-Ideologen getroffen. Andere kommen im öffentlichen Diskurs nicht zu Wort. Und niemand fragt, wie die Mehrheit der Bevölkerung, also der demokratische Souverän, darüber denkt.
Man braucht keine demoskopischen Untersuchungen, um zu wissen, dass die große Mehrheit der Bürger keine „Klimapolitik“ will, die auf eine staatliche Reglementierung des Energieverbrauchs für Autos, Heizungen und elektrische Geräte hinausläuft. Die Leute verstehen nur allzu gut, dass diese Politik ganze Industriezweige und damit Millionen von Arbeitsplätzen bedroht. Das heißt im Klartext, es gibt keine demokratische Mehrheit für die von der Regierung betriebene, ideologische Energiepolitik. Und wenn Putin seine Energie-Exporte drastisch reduziert oder sogar komplett unterbricht, werden im kommenden Winter die Heizungen ausfallen und große Teile der Industrieproduktion zum Stillstand kommen. Dann wird sich die deutsche Regierung zwischen einer Staatskrise nach dem Modell der “Gelbwesten” in Frankreich (2018/2019) und einer Wende in ihrer Energiepolitik entscheiden müssen.
Allerdings trifft Putins Krieg nicht nur linke und grüne Ideologien. Er stellt auch die Wirtschafts- und vor allem die Landwirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte in Frage. Bereits die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die westlichen Länder in einem absurden Ausmaß von pharmazeutischen und medizinischen Produkten aus China, Indien und anderen unsicheren Lieferanten abhängig sind. Das gleich gilt für die Lieferketten in der Industrieproduktion und vor allem für Lebensmittel. Man versteht, dass in Norwegen keine Orangen wachsen, aber warum kann beispielsweise Frankreich, das einst als „Getreidemonarchie“ galt, nicht selbst genug Getreide und andere wichtige Lebensmittel für den eigenen Konsum produzieren? Warum wird Mais für Bio-Kraftstoff statt für Brot angebaut? Warum werden Anbauflächen für ideologische Projekte verschwendet, statt sie für die Lebensmittelversorgung zu nutzen?
Allerdings trifft Putins Krieg nicht nur linke und grüne Ideologien. Er stellt auch die Wirtschafts- und vor allem die Landwirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte in Frage.
Das gilt auch für viele afrikanische Staaten, denen die westlichen Politiker und „Experten“ eine „moderne Landwirtschaft“ aufzwangen, wodurch die Versorgung der eigenen Bevölkerung unmöglich wurde. Nun leiden Ägypten und andere afrikanische Staaten an einem akuten Getreidemangel, weil die Lieferungen aus der Ukraine ausbleiben. Die Folgen von Hungersnöten sind vorhersehbar, und die westlichen Staaten müssen zusehen, wie ihre „Globalisierung“ in die Ernährungs-Katastrophe führt. Wen wundert es, dass sich diese Staaten in der UNO nicht von Putin distanzieren wollen? Hier hat der Westen intellektuell und strategisch versagt, und zwar nicht erst seit dem 24. Februar 2022, sondern bereits Jahrzehnte zuvor, während China übrigens in Afrika und sogar in Europa riesige Anbauflächen gekauft hat.
In den Staaten des Westens ist es höchste Zeit, sich von politischen Ideologien wie „Dekarbonisierung“ und „Globalisierung“ zu trennen und wieder zu den Prinzipien der ökonomischen Vernunft zurückzukehren. Putins Krieg muss dazu genutzt werden, die falschen Propheten in die Wüste zu schicken. Wenn das nicht geschieht, wird uns die nächste strategische Katastrophe noch einmal kalt erwischen. Konkret gesprochen heißt das, wir müssen uns bereits heute auf den nächsten Krieg gegen den Westen, gegen sein Gesellschaftsmodell und gegen seine politischen Fundamente vorbereiten. Dieser Krieg wird von China seit Jahren geführt, zunächst allerdings ohne einen dramatischen militärischen Angriff, beispielsweise auf Taiwan. Denn weltpolitisch gesprochen, ist Putins Krieg in der Ukraine wie ein Eisberg, von dem wir bisher nur die Spitze sehen.