Kernwaffen und der Ukrainekrieg
Niemand weiß heute, wie lange der Ukrainekrieg dauern und wie er enden wird, aber es lassen sich Faktoren benennen, die dabei eine Rolle spielen werden. Der UN-Sicherheitsrat wäre völkerrechtlich zuständig, doch bekanntlich haben die fünf ständigen Mitglieder ein Vetorecht, mit dem sie Beschlüsse verhindern können, die sie selbst oder ihre Verbündeten betreffen. Russland macht davon Gebrauch, und die Zeiten, in denen China noch konstruktiv mitarbeitete, sind vorbei. Wir müssen deshalb jenseits des Völkerrechts und jenseits von internationalen Verträgen und Abkommen – also jenseits der viel berufenen „regelbasierten Ordnung“ – nach Faktoren suchen, die von Bedeutung sein könnten.
Zu den wichtigsten Faktoren, die für die Ukraine, aber auch weit darüberhinaus eine Schlüsselrolle spielen, gehören zweifellos die Kernwaffen. Dazu stellen wir erst einmal fest, dass es in der Geschichte bisher noch keine direkte militärische Konfrontation zwischen zwei (oder mehreren) Kernwaffenmächten gegeben hat – abgesehen von einem kurzen chinesisch-russischen Debakel an der Ussuri-Grenze im Jahr 1969. Doch damals hatte China, dessen erster Atomtest 1964 erfolgte, noch einen Mangel an einsetzbaren Kernwaffen und Trägersystemen.
Zu den wichtigsten Faktoren, die für die Ukraine, aber auch weit darüberhinaus eine Schlüsselrolle spielen, gehören zweifellos die Kernwaffen.
Wenn man annimmt, dass Kernwaffen einen Krieg zwischen Atommächten verhindern, wäre mit einem Eingreifen der USA oder anderer westlicher Atommächte im Ukrainekrieg nicht zu rechnen. Eine Ausnahme wäre allerdings die Reaktion auf einen russischen atomaren Erstschlag, beispielsweise mit taktischen Atomwaffen geringer Reichweite und kurzer Strahlenwirkung, die gegen militärische Ziele eingesetzt werden. Sollte nämlich eine westliche Reaktion „nur“ konventionell erfolgen, hätte Moskau einen großen psychologischen Vorteil und die Logik der nuklearen Abschreckung wäre entzaubert, zumindest teilweise.
Ohne den Einsatz von Kernwaffen könnte Präsident Wladimir Putin jedoch vor der Wahl stehen, entweder eine militärische Niederlage zu akzeptieren, die bereits mehrere westliche Regierungschefs herbeiwünschen, oder den Krieg schier endlos zu verlängern. Würde Putin eine solche Niederlage akzeptieren, ohne „als letztes Mittel“ doch noch Kernwaffen einzusetzen? Allgemein formuliert: Sind Atomwaffen eine Rückversicherung im Krieg gegen einen Staat, der keine Atomwaffen besitzt, hier also gegen die Ukraine?
Ohne den Einsatz von Kernwaffen könnte Präsident Wladimir Putin jedoch vor der Wahl stehen, entweder eine militärische Niederlage zu akzeptieren, die bereits mehrere westliche Regierungschefs herbeiwünschen, oder den Krieg schier endlos zu verlängern.
Davon gehen vermutlich alle Staaten aus, die Atomwaffen besitzen oder anstreben. Beispielsweise wollen Pakistan, Israel und Nordkorea auf diese Weise ihre staatliche Existenz absichern. Im Fall des Irans gehen diese Ambitionen ohne Zweifel noch weiter. Es soll nicht nur das totalitäre Mullah-Regime abgesichert werden, sondern der Iran will sich als atomar gerüstete Regional- und Großmacht etablieren und eine Führungsrolle in der Welt der schiitischen Bevölkerungen oder sogar in der islamischen Welt insgesamt beanspruchen. Anders formuliert: Entgegen der weithin verbreiteten Ansicht, ein Verbot oder eine Reduzierung der Kernwaffen würde die Welt stabiler machen, gibt es eine konkurrierende Überzeugung, dass Atomwaffen machtpolitisch „rentabel“ und daher für viele Staaten erstrebenswert sind.
Was heißt das konkret, wenn Moskau den Krieg fortsetzt, notfalls mit taktischen Atomwaffen, um eine Niederlage zu verhindern und wenn man gleichzeitig in Nordamerika und Europa überall verkündet, eine ukrainische Niederlage nicht akzeptieren zu wollen?
Eine logische Möglichkeit wäre, diesen Krieg mit einem „dauerhaften“ Waffenstillstand zu beenden, wie wir ihn seit 1953 aus dem Koreakrieg kennen. Allerdings war damals der Ausgang des Krieges für keine der Großmächte lebensbedrohlich. Jede von ihnen hätte sich mit jeder Lösung arrangieren können, genauso wie sich die USA zwei Jahrzehnte später mit einer Niederlage im Vietnamkrieg oder im Sommer 2021 in Afghanistan arrangierten. Im Fall der Ukraine trifft diese Bedingung aber nicht zu, denn Russland würde sich durch einen Waffenstillstand „à la Korea“ in seiner Position als Großmacht bedroht fühlen.
Alternativ könnten die NATO-Staaten einer Teilung der Ukraine zustimmen, wenn der westliche Teil der NATO beitritt und zum Stationierungsgebiet von NATO-Streitkräften samt Kernwaffen würde, wie es Deutschland im Kalten Krieg war. Ob jedoch die ukrainische Bevölkerung einer Lösung ohne kompletten und endgültigen russischen Truppenabzug aus dem gesamten Staatsgebiet zustimmen würde, ist angesichts der russischen Kriegsverbrechen mehr als fraglich. Jedenfalls würde sich Kiew nicht mehr auf eine Regelung einlassen, die auf einem internationalen Abkommen beruht wie das „Budapester Memorandum“ von 1994. Damals verzichtete die Ukraine auf ihren Anteil am ehemals sowjetischen Kernwaffenarsenal, wobei die USA und Großbritannien die ukrainische Regierung gedrängt hatten, dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag als Nicht-Kernwaffenstaat beizutreten und auf Sicherheitsgarantien aus Washington und London zu vertrauen. (Ähnliche Abkommen gab es damals mit Belarus und Kasachstan.)
Alternativ könnten die NATO-Staaten einer Teilung der Ukraine zustimmen, wenn der westliche Teil der NATO beitritt und zum Stationierungsgebiet von NATO-Streitkräften samt Kernwaffen würde, wie es Deutschland im Kalten Krieg war.
Somit gibt es mehrere Möglichkeiten für die Rolle von Kernwaffen im und nach dem Ukrainekrieg. Nicht zu bezweifeln ist allerdings, dass dieser Krieg historische Lektionen erteilen wird für die übrige Welt. Kein Kernwaffenstaat und kein Anwärter auf diesen Status wird künftig auf internationale Abkommen nach dem Muster von 1994 vertrauen, wenn es um seine nationale Existenz oder um das Überleben seines politischen Regimes geht.
Aber auch die Gewissheit der nuklearen Abschreckung könnte beschädigt werden. Zwar weiß niemand, ob eine nuklear bewaffnete Ukraine von russischen Truppen angegriffen worden wäre. Jeder weiß aber, dass eine Ukraine ohne Atomwaffen keine adäquate Antwort auf einen russischen Atomangriff hat. Deshalb ist zu fragen, ob die Vereinbarungen von 1994 als erweiterte Abschreckung (extended deterrence) der USA anzusehen sind oder nicht. Der Ukrainekrieg könnte also zum Testfall für den amerikanischen Nuklearschirm der nicht nuklear-bewaffneten Staaten Europas werden. In diesem Sinn ist zu verstehen, warum Finnland und Schweden sehr schnell der NATO beitreten wollen. Hier dürfte es unter den NATO-Mitgliedern kaum Einwände geben, aber die NATO muss sich die Frage stellen, wie sie danach auf die ukrainische Forderung nach einer NATO-Mitgliedschaft reagieren will. Dazu gab es im März 2018 nur eine unverbindliche Erklärung, die heute in eine völlig andere Perspektive rückt.
Wenn aktuell über eine eventuelle Mitgliedschaft oder Assoziierung der Ukraine in der Europäischen Union (EU) diskutiert wird, so ist klar, dass nur die NATO sicherheitspolitisch für die Ukraine relevant sein kann. Die EU als Defensivbündnis und somit als Konkurrenz zur NATO spielt keine Rolle mehr, weil ihr die nukleare Abschreckung fehlt. Frankreichs Atomwaffen dienen ausschließlich der Verteidigung des französischen Staatsgebietes, und Großbritannien gehört nicht mehr zur EU. Dabei stehen die britischen Atomwaffen ausdrücklich der „erweiterten nuklearen Verteidigung“ im Rahmen der NATO zur Verfügung, auch wenn sie, ähnlich den amerikanischen Nuklearstreitkräften, nur durch den britischen Regierungschef eingesetzt werden können. Somit hat die nukleare Verteidigung durch den Ukrainekrieg neues Gewicht erhalten, wodurch die NATO gestärkt und die EU militärisch unbedeutend wird.
Schließlich bleibt die Frage, ob sich Putin an der Macht halten kann und ob eine nachfolgende russische Regierung einen Kompromiss-Frieden schließen würde, denn die russischen Eliten haben ihr Schicksal mit einem militärischen Sieg Russlands verknüpft, und sogar die breite Bevölkerung unterstützt diesen Krieg. Deshalb sollte man nicht nur von „Putins Krieg“ sprechen, wie es in den westlichen Medien zumeist geschieht.
Schließlich bleibt die Frage, ob sich Putin an der Macht halten kann und ob eine nachfolgende russische Regierung einen Kompromiss-Frieden schließen würde, denn die russischen Eliten haben ihr Schicksal mit einem militärischen Sieg Russlands verknüpft, und sogar die breite Bevölkerung unterstützt diesen Krieg.
Im übrigen ist Russland keinesfalls isoliert auf der Weltbühne, wie man im Westen gerne glauben möchte. Viele denken, die westliche Sanktionspolitik würde Moskau schnell in die Knie zwingen. Aber Russland genießt die Unterstützung von China und Indien, jedenfalls bei der militärischen Zusammenarbeit und soweit es um den Verkauf von russischen Rohstoffen, vor allem von Öl und Gas, geht. Diese Partner haben ihrerseits weitreichende Verbindungen überall in der Welt. Um diese Unterstützung zu erhalten, wird der Kreml allerdings grosse Zugeständnisse machen müssen, insbesondere an die imperiale Politik Chinas.
Kurzum, der Ukrainekrieg hat weltpolitische Auswirkungen, die man in den täglichen Fernsehberichten vom Schrecken der russischen „Sonderoperation“ nicht erkennen kann und die sich auf die künftige internationale Nuklearpolitik erstrecken.