Ist Deutschland Hilflos im Belarus-Konflikt?
Die „Bild“-Zeitung hat mehr Leser in Deutschland als jede andere Tageszeitung, auf Papier gedruckt und digital. Sie lebt von Sensationen, egal ob es dabei um Politik oder Popkultur geht.
Am 11. November 2021 erschien sie mit der Schlagzeile: „Merkel bettelt bei Putin, Scholz schweigt. Deutschland völlig hilflos in der Flüchtlingskrise.“ Konkret ging es um ein Telefongespräch, das noch-Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem russischen Staatspräsidenten führte. Dabei sprach sie über die Flüchtlingskrise an der Grenze zwischen Polen und Belarus, die der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko inszenierte, indem er tausende illegale Migranten, zumeist junge Männer, aus dem Mittleren Osten sowie aus Afrika einreisen und an die Grenze zu Polen bringen liess. Offensichtlich kamen diese Leute per Flugzeug nach Belarus.
Doch wer organisierte ihre Anreise? Wer bezahlte dafür, und wer brachte diese Leute an die polnische Grenze – samt Medienpräsenz?
Doch wer organisierte ihre Anreise? Wer bezahlte dafür, und wer brachte diese Leute an die polnische Grenze – samt Medienpräsenz?
Lukaschenkos enger Verbündeter Putin streitet ab, mit dieser Aktion irgendwas zu tun zu haben. Doch es ist schlichtweg undenkbar, dass eine derartige Provokation der Europäischen Union (EU) ohne Zustimmung aus dem Kreml stattfinden kann. Seit der Wahlfälschung von 2020 in Belarus und den Massenprotesten in Minsk regiert Lukaschenko nur noch von Putins Gnaden.
Einige Tage später telefonierte Frau Merkel auch mit Lukaschenko selbst. Über den genauen Inhalt des 50-minütigen Gesprächs wurde nichts bekannt, doch Kritiker monierten sogleich, mit Diktatoren wie Lukaschenko dürfe man überhaupt nicht sprechen. Olaf Scholz, der künftige (aber noch nicht gewählte!) Bundeskanzler einer neuen linksgrünen Regierung, schweigt zu den Ereignissen an der polnischen Grenze. Soweit stimmt also, was die „Bild“-Zeitung schrieb. Doch wie steht es mit der Diagnose „hilflos“?
Zum Verständnis der Lage muss man zwei Dinge festhalten. Nach bisherigem Kenntnisstand wollen die Migranten aus Belarus illegal in die EU einreisen mit dem erklärten Ziel, nach Deutschland zu kommen. Das ist bereits vielen gelungen, mit aktiver Unterstützung von Grenzpolizei und Militär in Belarus, obwohl Polen seine Grenze scharf bewacht. In Deutschland sind die Sozialleistungen am höchsten und illegal Einreisende werden nur selten in ihre Heimatländer deportiert. Seit 2015 kursiert der Slogan “Refugees Welcome”, der damals weltweit in Fernsehberichten zu sehen war und wie ein Magnet wirkt.
Hinzu kommen endlose politische Komplikationen, denn die Einreise in die Schengen-Staaten richtet sich zwar nach einem strengen EU-Recht, doch diese Verfahren werden seit vielen Jahren nicht mehr eingehalten. Deshalb hat Polen seine Ostgrenze aus eigenen Mitteln und gegen den Willen der EU-Kommission mit einer Mauer aus Stacheldraht befestigt. Der Vorschlag des deutschen Innenministers Horst Seehofer, man müsse Polen finanziell unterstützen, verlief im Sand. In Berlin wagt es niemand, der EU-Kommission zu widersprechen. Die offizielle Politik heißt: „Die Flüchtlingskrise braucht eine europäische Lösung“, also auf EU-Ebene, obwohl alle wissen, dass die östlichen Mitgliedstaaten keine Flüchtlinge aus Mittelost aufnehmen wollen. Daran hat sich seit der großen Flüchtlingskrise von 2015 nichts geändert.
Deshalb hat Polen seine Ostgrenze aus eigenen Mitteln und gegen den Willen der EU-Kommission mit einer Mauer aus Stacheldraht befestigt. Der Vorschlag des deutschen Innenministers Horst Seehofer, man müsse Polen finanziell unterstützen, verlief im Sand.
Neu ist allerdings, dass sich die Beziehungen der EU zu Ungarn und Polen seit 2015 extrem verschlechtert haben. Dabei geht es um die Grundsatzfrage, ob EU-Recht über dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten steht oder nicht. Polen will das nicht akzeptieren und besteht darauf, seine im polnischen Parlament beschlossene Justizreform beizubehalten. Die EU hat eine hohe Geldstrafe verhängt und will Polen in die Knie zwingen.
In Ungarn geht es um Pressegesetze sowie um ein Gesetz, das Schulkinder vor einer Indoktrination mit Genderpolitik schützen soll. Als Rechtfertigung für die Zwangsmaßnahmen gegen Polen und Ungarn fordert die EU die Einhaltung „europäischer Werte“. Aber wer legt diese Werte fest? Die Erinnerung an „sozialistische Werte“ aus dem Sowjetimperium sind in Polen und Ungarn noch sehr lebendig. Vor allem aber ist festzuhalten, dass westliche Demokratien nicht mit „Werten“, sondern mit Gesetzen regiert werden, die von demokratisch gewählten Parlamenten zu beschließen und von den Regierungen sowie von der Justiz zu befolgen sind. Welche Werte die Gesetzgeber dabei leiten, müssen sie selbst wissen. Andernfalls könnte man nicht von freien Entscheidungen sprechen.
Bei der Krise an der polnisch-belarussischen Grenze geht es also nicht in erster Linie um Migranten, sondern um zwei Grundsatzfragen der EU. Erstens, hat die EU das Recht, Staaten wie Polen und Ungarn eine Politik der unkontrollierten Zuwanderung und der multiethnischen Gesellschaft aufzuzwingen? Und zweitens, ist die nationale Justiz der EU-Justiz und der EU-Rechtspolitik unterworfen?
Deutschland versucht, hilflos zwischen der EU und der Realpolitik an der polnischen Ostgrenze zu lavieren. Das oberste deutsche Gericht, nämlich das Bundesverfassungsgericht, versucht immer wieder, einer Grundsatzentscheidung zur Justizhoheit auszuweichen. Bundeskanzlerin Merkel erklärt zwar nicht öffentlich das Totalversagen der EU gegenüber den östlichen Nachbarn der EU, insbesondere gegenüber Russland. Aber sie bemüht sich um direkte Gespräche, wie bereits 2014 in der Ukrainekrise. Auch damals versagte das Krisenmanagement der EU, weshalb Frankreich und Deutschland gemeinsam agierten, um das Abkommen von Minsk für einen Waffenstillstand auszuhandeln.
Deutschland versucht, hilflos zwischen der EU und der Realpolitik an der polnischen Ostgrenze zu lavieren.
Zusätzlich müssen die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen beachtet werden. Deutschland hat 1939 Polen überfallen, gemeinsam mit der Sowjetunion, hat den polnischen Staat vernichtet und Millionen seiner Zivilbevölkerung ermordet. 1990 wäre es nicht zur Vereinigung von Ost- und Westdeutschland gekommen ohne die Zustimmung Polens, nachdem die 1980 entstandene polnische Solidarnosc-Bewegung das Ende der Sowjetherrschaft in Europa vorbereitet und Ungarn im Sommer 1989 die Grenze des Warschauer Paktes geöffnet hatte.
Wenn Deutschland jetzt versuchen sollte, sich im Konflikt zwischen EU und Polen (und Ungarn) auf die Seite Brüssels zu stellen, wäre es in Europa vollkommen isoliert. Niemand wäre bereit, Berlin gegen Polen zu unterstützen. Der Vorwurf einer deutschen „Großmachtpolitik“ („das Vierte Reich“) würde einen riesigen Schaden anrichten, nicht nur bei den östlichen EU-Mitgliedern. Sofort würden hohe finanzielle Entschädigungen für die deutschen Kriegsverbrechen gefordert, die vor allem von rechtsnationalen Politikern immer wieder erhoben werden. Ähnliche Forderungen gab es beispielsweise in Griechenland. Zusätzlich würde die deutsche Wirtschaft heftige Verluste erleiden und Wladimir Putin käme seinem Ziel näher, die europäische Staatenwelt zu destabilisieren und den russischen Einfluss auszudehnen.
Wenn Deutschland jetzt versuchen sollte, sich im Konflikt zwischen EU und Polen (und Ungarn) auf die Seite Brüssels zu stellen, wäre es in Europa vollkommen isoliert. Niemand wäre bereit, Berlin gegen Polen zu unterstützen.
Seit 1949 wussten alle deutschen Bundeskanzler, angefangen mit Konrad Adenauer, um das besondere deutsch-polnische Verhältnis. Ob die neue Bundesregierung es begreifen wird, kann man nicht wissen, doch die allgegenwärtige Realitätsverweigerung der linken und der grünen deutschen Politiker in der Außen- und Sicherheitspolitik und deren naive EU-Begeisterung lässt nichts Gutes erwarten. Gewiss hat Bundeskanzlerin Merkel ein waches Gespür für diese Gefahren. Daraus erklären sich ihre Telefonate mit Moskau und Minsk, die sogleich den Verdacht erregten, Berlin könnte eine “Achse” zu Moskau aufbauen und die EU-Partner „verraten“. Aber nun ist es zu spät, eine deutsche EU-Politik zu korrigieren, die Angela Merkel in den 16 Jahren ihrer Regierung zu großen Teilen verschuldet hat.