Deutsche Politik nach Angela Merkel
Im Moment verhandeln drei Parteien über die Möglichkeit, eine Koalitionsregierung zu bilden. Seit den Bundestagswahlen vom 26. September 2021 hat sich die Führung der Sozialdemokratischen Partei (SPD) mit den Vorsitzenden der Grünen und der liberalen Partei (FDP) mehrmals getroffen, um ein gemeinsames Konzept zu erarbeiten. Bei nur 25,7 Prozent der Stimmen (ca. 12 Millionen) kann man, im Vergleich zu früheren Wahlergebnissen, kaum von einem Sieg der SPD sprechen. Bei ihren Wahlsiegen von 1998 und 2002 hatte sie noch 20 und 18,5 Millionen Stimmen erhalten. Sie hat also die Wahlen von 2021 nur gewonnen, weil die konkurrierenden konservativen Parteien (CDU/CSU) noch schlechter abschnitten. Sie erhielten nur 24,1 Prozent oder 11,1 Millionen Stimmen, nachdem sie 1998 noch mit 18 Millionen Stimmen die Wahl verloren(!) hatten.
Seit Angela Merkels erstem Wahlsieg von 2005 mit nur 16,5 Millionen Stimmen ging es mit der von ihr geführten CDU bergab, wenn auch ein wenig langsamer als mit der SPD. Das heißt, Merkel profitierte vom Verfall der SPD, tat jedoch wenig, um ihre eigene Partei vor dem Verfall zu bewahren. Wenn man die demographischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte berücksichtigt, verloren beide große Parteien (gegenüber den 1990er Jahren) fast die Hälfte ihrer Wähler. Das geschah durch eine Politik der «asymmetrischen Demobilisierung». Indem Angela Merkel die Konfrontation mit dem politischen Gegner weitgehend vermied, nahm sie den gegnerischen Wählern die Motivation, ihre «traditionelle Partei» zu wählen oder sogar ihre Stimme abzugeben.
Wenn man die demographischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte berücksichtigt, verloren beide große Parteien (gegenüber den 1990er Jahren) fast die Hälfte ihrer Wähler.
Vor diesem Hintergrund lässt sich von einer tiefen Zäsur in der deutschen Politik sprechen. Das Wahlergebnis ist ein Zeichen von Ratlosigkeit bei den Wählern, wie Eric Gujer, Chefredakteur der Neuen Züricher Zeitung schreibt. Es ist kein Auftrag für große Reformen.
Die beiden (einstmals!) großen Parteien werden ihre alte Größe nicht wiedergewinnen. Die SPD ist nach links gedriftet, während sich der moderate Kern weitgehend aufgelöst hat. Die CDU hat sich inhaltlich vom privatwirtschaftlichen Mittelstand und damit von ihrer früheren Identität entfernt. Sie hat vieles an «grüner» Politik übernommen: Abschaffung der Wehrpflicht, drastische Budgetkürzungen beim Militär, Ausstieg aus der Kernenergie, massiver Ausbau der Windenergie, riesige Subventionierung für Elektroautos, offene Einwanderung aus islamistischen Staaten (vor und nach 2015). Von «christlicher» Demokratie ist in der CDU unter Angela Merkel kaum etwas geblieben, von der traditionellen Bindung an die katholische Arbeiterbewegung noch weniger.
Angesichts dieses inneren politischen Verfalls der beiden großen Parteien verwundert es nicht, dass viele Themen, welche die grosse Mehrheit der Bürger bewegen, im Wahlkampf gezielt vermieden wurden. Dazu gehörten: innere Sicherheit, Migration, Islamismus, Wohnungskrise in den großen Städten, Leistungsverfall im Schulsystem, künftige Finanzierung der Renten, Sanierung der Staatsfinanzen und vieles mehr. Stattdessen sprach man über die angeblich bevorstehende Klimakatastrophe, die Bedrohung durch den Rechtsextremismus, die Forderungen von Minderheiten und die angeblich erforderliche «Stärkung der Europäischen Union».
Dazu gehörten: innere Sicherheit, Migration, Islamismus, Wohnungskrise in den großen Städten, Leistungsverfall im Schulsystem, künftige Finanzierung der Renten, Sanierung der Staatsfinanzen und vieles mehr.
Nicht einmal die westdeutsche Flutkatastrophe Mitte Juli 2021 mit 180 Toten und Schäden in Milliardenhöhe konnten an der Langeweile des Wahlkampfes etwas ändern, obgleich diese Katastrophe aus einem kläglichen Versagen von Politik und Verwaltung resultierte. Ähnlich war es mit dem chaotischen Rückzug aus Afghanistan im Juli/August und der Machtergreifung durch die Taliban. 20 Jahre Afghanistanpolitik, darunter 16 Jahre unter Angela Merkel, verschwanden in einem schwarzen Loch der politischen Inkompetenz und der Milliardenverluste.
Hier zeigten sich noch einmal die «Teflon»-Qualitäten von Bundeskanzlerin Merkel. Es gelang ihr, die öffentliche Empörung über das Versagen ihrer Regierung rasch unter Kontrolle zu bringen. Das konnte nur gelingen, weil die großen Medien, vor allem das öffentliche Fernsehen, rot-grüne Positionen vertreten.
Diese Politik der Konsensbildung um jeden Preis wird in Deutschland noch lange nachwirken. Ein konfrontativer Politikstil wie bei den amerikanischen Präsidenten Obama, Trump und Biden ist in Deutschland heute völlig undenkbar. Angela Merkel gelang es immer wieder, die vielversprechenden politischen Parolen der anderen Parteien sehr schnell zu übernehmen. Eigene Positionen war sie jederzeit bereit aufzugeben.
Ein konfrontativer Politikstil wie bei den amerikanischen Präsidenten Obama, Trump und Biden ist in Deutschland heute völlig undenkbar.
Dafür ist ihre Politik der Kernenergie das bekannteste Beispiel. Nur wenige Tage nach der Atomkatastrophe von Fukushima (2011) verkündete sie die vorzeitige Stilllegung der deutschen Atomkraftwerke, obgleich sie davor zu den aktiven Befürwortern der Kernkraft gezählt hatte und obwohl der japanische Unfall nichts mit der deutschen Reaktortechnik zu tun hatte. Die über 22.000 japanischen Opfer des von einem Erdbeben ausgelösten Tsunami hatten ebenfalls nichts mit dem Reaktorunfall zu tun.
Es war ein politischer Geniestreich. Mit einem Schlag wurde Merkel das lästige Thema Kernenergie los und brachte zugleich die Kernkraftgegner in der SPD, bei den Grünen und vor allem bei den Medien hinter sich. Von da an blieb sie von Pressekritik weitgehend verschont, was noch keinem Bundeskanzler vor ihr gelungen war. Bei den Bundestagswahlen 2013 erzielte sie ihr bestes Ergebnis von 41,5 Prozent mit beinahe 18,1 Millionen Wählerstimmen. Doch dann kam die Krise von 2015, als über eine Million Flüchtlinge ins Land strömten – gegen Recht und Gesetz und ohne die deutsche Bevölkerung oder die europäischen Partnerstaaten zu konsultieren. Das Ergebnis war im Jahr 2017 ein riesiger Wahlerfolg für die Alternative für Deutschland (AfD), eine neue rechtskonservative Partei, die 12,5 Prozent der Stimmen (5,8 Millionen Wähler) holte und aus dem Stand zur größten Oppositionspartei wurde, während die Grünen nur knapp 9 Prozent (oder 4,16 Millionen Wähler) verbuchten.
Wenn sich Merkels Politik und Politikstil unter ihrem Vizekanzler Olaf Scholz fortsetzen sollte, wie es zu erwarten ist, wird die AfD trotz ihrer personellen Schwächen bestehen bleiben. Zwar hat sie 2021 eine Million Wähler verloren und nur noch 10,3 Prozent erzielt, doch in einigen Teilen Ostdeutschlands hat sie kräftig zugelegt und bis zu 24 Prozent (im Bundesland Thüringen) erreicht. Zugleich verlor die CDU in Ostdeutschland (gegenüber 2017) mehr als ein Drittel ihrer Wähler. Das heißt, die Ablehnung von Merkels Politik ist in ihrer ostdeutschen Heimat am größten.
Was ist von einem zukünftigen Bundeskanzlers Olaf Scholz zu erwarten? Zunächst einmal Professionalität. Scholz war lange Jahre als Anwalt tätig, war Parlamentarier, Bundesarbeitsminister (2007-2009), Erster Bürgermeister von Hamburg (2011-2018) und Bundesfinanzminister (seit 2018). Er kennt den Staatsapparat in- und auswendig. Während seine SPD weit nach links gerückt ist, zählt Scholz zu den Gemäßigten. Deshalb durfte er im November 2019 nicht SPD-Chef werden. Im Vergleich dazu sind FDP-Chef Christian Lindner und Grünen-Chefin Annalena Baerbock ohne jede Regierungserfahrung. Sie waren bisher nur Abgeordnete, sind Berufspolitiker ohne einen zivilen Beruf. Trotzdem könnte Baerbock in der neuen Regierung Außenministerin werden, Lindner Finanzminister.
Was ist von einem zukünftigen Bundeskanzlers Olaf Scholz zu erwarten? Zunächst einmal Professionalität.
Einen Vorgeschmack auf das künftige Regierungsprogramm gibt ein Positionspapier vom 15. Oktober, das offensichtlich dazu dienen soll, die Öffentlichkeit zu beruhigen. Die Steuern sollen nicht erhöht werden, die Renten sollen nicht reformiert, doch die Pariser Klimaschutzziele sollen mit Hilfe neuer staatlicher Subventionen bereits 2030 erreicht werden. Wie lässt sich das finanzieren? «Wir wollen … den Haushalt auf überflüssige, unwirksame und umwelt- und klimaschädliche Subventionen und Ausgaben überprüfen», heißt es in diesem Papier. Aber welche Familie, welche Privatfirma lässt sich ihre Subventionen wegnehmen, ohne heftig zu protestieren? Vorsicht! Das kostet Wählerstimmen.
Nachdem die SPD 12 Jahre gemeinsam mit Angela Merkel regiert hat, verspricht sie jetzt «dringende Reformen» der Verwaltung und rasches Handeln bei der Digitalisierung sowie beim Ausbau des «schnellen Internet». Warum erst jetzt, möchte man fragen? Warum hat Rumänien eine bessere Internetversorgung als Deutschland?
Von den Grünen erwartet man politische Veränderungen, aber in welche Richtung? Bisher kennt man sie als die Partei der Staatsgläubigkeit, der Bevormundung und der «woke»-Ideologie. Die zu regierende Bevölkerung besteht für sie nicht aus Bürgern und Bürgerinnen, die möglichst weitgehend über ihr Leben selbst bestimmen dürfen, sondern Menschen, die man zur Ökologie und zum wokeism umerziehen muss. Auch die SPD ist eine zutiefst staatsgläubige Partei, die misstrauisch auf die Privatwirtschaft sieht, sie durch Vorschriften und hohe Steuern gängelt. Gleichwohl erwartet sie vom «Kapitalismus» die Finanzierung des aufgeblähten Sozialstaates. Wenn man sie fragt, wer die rasch wachsenden Sozialausgaben und die Defizite in der Rentenkasse bezahlen soll, erhält man von der SPD stets die gleiche Antwort: «die Reichen». Sie will unbedingt die Vermögenssteuer wieder einführen, die es von 1952 bis 1997 gegeben hatte.
Die einzige politische Kraft, die echte Reformen und zugleich eine blühende Privatwirtschaft wünscht, ist die liberale Partei FDP. Doch mit 12,5 Prozent der Sitze im Parlament wird sie gegenüber den 44,0 Prozent der rot-grünen Abgeordneten wenig Gewicht haben. Sie wird sich gegen die Staatsgläubigkeit von SPD und Grünen kaum durchsetzen können.
Zur Außen- und Sicherheitspolitik enthält das Papier nur Banalitäten. Vor allem soll es mehr Kompetenzen für die Europäische Union, also für die Bürokratie von Brüssel geben. Man spricht von «strategische(r) Souveränität Europas». Aber zu welchem Zweck? Wie will sich die EU in den großen internationalen Konflikten mit Russland, China und der islamischen Welt positionieren? Welche Mittel will sie einsetzen? Welche Mittel hat sie überhaupt? Diese Fragen werden nicht einmal erwähnt. Es bleibt bei den leeren Phrasen einer «regelbasierten internationalen Ordnung», ohne Beachtung von politischen und strategischen Realitäten.
Wie will sich die EU in den großen internationalen Konflikten mit Russland, China und der islamischen Welt positionieren? Welche Mittel will sie einsetzen? Welche Mittel hat sie überhaupt?
Nun beginnen die Koalitionsverhandlungen. Angela Merkel bleibt vorerst im Amt, eventuell bis Dezember.