Poetische Parallelen
Was ist der Unterschied zwischen jemandem, der in Sueddeutschland Mitglied der Hitlerjugend war, und jemandem, der im Zweiten Weltkrieg in Polen einer juedischen Frau bei der Flucht vor den Deutschen half? Ist es der Unterschied zwischen Taeter und Opfer? Zwischen dem Vollstrecker und dem Verfolgten? Oder gar zwischen einem Deutschen und einem Polen? Nein, nicht in dem Zusammenhang, von dem ich spreche: Ich spreche von Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI.
Als Benedikt vor einigen Tagen Yad Vashem besuchte, war ihm die Spannung foermlich anzusehen. Dass einige Knessetabgeordnete lautstark das Horn gegen ihn geblasen haben, ist beinahe schon politische Routine in einem Land, dessen Machtlogik fuer Europaer oft schwer durchschaubar ist. Aber dass Benedikt so wenig aktives Mitgefuehl im Zusammenhang mit dem Holocaust zeigte, macht einen schon ein wenig nachdenklich: Der Papst ist ein 1927 geborener Deutscher. Und nebenbei bemerkt hat der Geheimdienst des Vatikan eine Schluesselrolle gespielt bei der Flucht zahlreicher Nazieliten nach Suedamerika 1945/46. Vielleicht war die geradezu protokollarische Selbstdisziplin des Papstes gut gemeint, aber es ist einfach schwer darueber hinwegzusehen, dass das im Ausland oftmals (zu Recht oder zu Unrecht, und bewusst oder unbewusst) erzeugte Bild des “steifen Deutschen” in Benedikt leider erneut eine Personifizierung gefunden zu haben scheint. Stille ist oft ein zeremonielles Gebot, wortlose Andacht kann im historischen Kontext dem tobenden Ton einer Todesfuge beizukommen versuchen, aber Schweigen kann auch missverstanden werden als Flucht vor Verantwortung. Es ist ja nun nicht so, dass diese Debatte neu ist. Seit dem Zweiten Weltkrieg wird sie in Deutschland, in Israel und auf der ganzen Welt gefuehrt. Aber gerade deshalb haette Benedikt, der sich vor einigen Monaten auf einen Schleier der Unwissenheit berief, als es um Bischof Williamson ging, vielleicht gut daran getan, etwas deutlicher und aktiver Teilnahme und Mitgefuehl zu vermitteln. Denken wir zurueck an Johannes Paul. Als er Yad Vashem besuchte, beruehrte er sanft die Hand der Frau, die er vor einem halben Jahrhundert in Polen auf der Flucht auf der Strasse gefunden und vor der Entdeckung bewahrt hatte. Auch da war Stille im Raum. Aber es war aktive Stille. Es war die narrative Stille, die das Vakuum des Unsagbaren mit wohltuender Poesie fuellte. Es kann sehr wohl Poesie geben nach Auschwitz! Aber diese Poesie muss aktiv und sinnerfuellt sein und darf sich, auch bei allerbestem Verstaendnis dessen, was 1933 bis 1945 im Land von Goethe und Schiller passiert ist, auch bei allerbester Analyse der Banalitaet des Boesen, nicht in zeremomieller Rationalitaet erschoepfen.
Apropos Poesie: Ich habe vor einiger Zeit einen hochrangigen israelischen Diplomaten, der fast ein Jahrzehnt in Deutschland stationiert war, unter vier Augen gefragt, wo er denn die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen der israelischen und der deutschen Mentalitaet sehe. Er war zunaechst ueberrascht ob der Frage, meinte aber sogleich, dass dies eine ausgezeichnete Frage sei. Seine Antwort spiegelt eine meiner Meinung nach sehr interessante Intuition wider: Eine der Gemeinsamkeiten zwischen beiden Kulturen ist das Ungleichgewicht zwichen einem Minderwertigkeits-/Angstkomplex einerseits und einem Ueberlegenheits-/Aggressionskomplex andererseits. Beide Laender haben in ihrer Geschichte Siege und Niederlagen gesehen und Gefuehle von Euphorie wie auch von Trauma erlebt. Und oft leben Deutschland und Israel in einer stark schwingenden Spannung zwischen (offen gelebtem und/oder verstecktem) nationalen Selbstbewusstsein (oder gar Chauvinismus) einerseits und der Angst, nicht gut genug zu sein oder nicht stark genug zu sein, anderseits. Wo ist aber die Poesie? Als er mir dies sagte, laechelte er und sagte schelmisch, es waere nicht so gut gewesen, wenn er dies vor allen Leuten gesagt haette. Wir standen vor dem Waschbecken auf der Herrentoilette des deutschen Konsulats. Draussen stand ein Publikum von etwa 100 Leuten.
Kann Israel die Shoah “ueberwinden”? Einige wuerde wahrscheinlich sagen: ja, und genau das will Iran mit seiner oeffentlichen Rhetorik verhindern. Ich bin mir da nicht so sicher. Die Geschichte des Staates Israel ist in vielen Hinsichten unmittelbar verknuepft mit dem Holocaust. Israel kann, soll und wird die Shoah wahrscheinlich nicht “ueberwinden” oder transzendieren. Der Ueberwindungsgedanke ist wohl etwas zu europaeisch, um nicht zu sagen: kantianisch, um ohne weiteres auf die gegenwaertige politisch-soziale Grosswetterlage Israels anwendbar zu sein. Man muss etwas nicht immer “ueberwinden”, um es zu verarbeiten. Verarbeitung kann auch in einem aufrecht erhaltenen Spannungsverhaeltnis, in einem konstanten Dialog, zwischen Angst und Aggression verortet werden und sich in teilnehmender Analyse, stillem Mitgefuehl wie auch in aktiver Demut manifestieren. Das ist auch und gerade eine deutsche Erfahrung – und sollte es auch bleiben.