Die französischen Wahlen im April und Juni 2022
Die Franzosen wählen jeweils in zwei Wahlgängen. Am 10. und 24. April sind Präsidentschaftswahlen, am 12. und 19. Juni Parlamentswahlen. Politisch spannend wird es erst im Juni, denn die Wiederwahl von Präsident Macron gilt als sicher. Ungewiss ist hingegen, wer die künftige Mehrheit im Parlament bildet. Wenn es den konservativen Kräften gelingen sollte, diese zweite Wahl zu gewinnen, können sie Macron eventuell zu einer Kursänderung seiner Politik zwingen — vorausgesetzt, sie überwinden ihre aktuelle Spaltung.
Macron hat es stets vermieden, sich nach den klassischen Begriffen als “rechts” oder “links” einzuordnen. Das wurde akzeptiert, weil das französische politische System seit längerem erodiert. Parteien wie die Sozialisten, Kommunisten, Gaullisten, Konservativen und Liberalen sind nahezu von der Bildfläche verschwunden oder haben sich in “Bewegungen” umgewandelt. Macrons eigene Partei der “marschierenden Republik” (La République en Marche) erlaubt sogar ihren Mitgliedern, gleichzeitig anderen Parteien anzugehören. Sie ist wenig mehr als ein Macron-Unterstützungsverein, der 2016 durch die Abwerbung von Politikern aus linken und rechten Parteien entstand. Im französischen Parlament besteht die Fraktion der Marschierer (“les marcheurs”), wie sie sich selbst nennen, vor allem aus übergelaufene Sozialisten des moderaten Flügels sowie einigen ehrgeizigen jungen Leuten aus der politischen Mitte. Doch die Hälfte von ihnen brachte keine politische Erfahrung mit. Viele zogen sich bereits vor Ende der Legislaturperiode zurück.
Macron hat es stets vermieden, sich nach den klassischen Begriffen als „rechts“ oder „links“ einzuordnen.
Wie schwach Macrons Partei ist, zeigte sich in den herben Verlusten bei den Europawahlen von 2019 sowie bei den Kommunalwahlen von 2020. Bei den Regionalwahlen vom Juni 2021 kam sie mit 8,8 Prozent nur noch auf den vierten Platz. Deshalb ist fraglich, ob sie im kommenden Juni die aktuellen 46 Prozent der Sitze in der Assemblée Nationale halten kann, zumal der Präsident und seine Politik in Frankreich reichlich unbeliebt sind. Nur 37 Prozent der Franzosen sind aktuell mit Macrons Arbeit zufrieden.
Wenn er trotzdem beste Chancen auf eine zweite Amtszeit hat, liegt es am französischen Wahlsystem. Bereits die Wahl von Jacques Chirac 1996 lief nach diesem Muster ab. Chirac war im ersten Wahlgang mit 20,8 Prozent der Stimmen einer von vier konservativen Kandidaten. Ihm gegenüber gab es vier linke Kandidaten, von denen Lionel Jospin mit 23,3, Prozent in Führung lag. Im zweiten Wahlgang kam Chirac gleichwohl auf 52,6 Prozent. Bei den Wahlen von 2002 erhielt Chirac sogar nur 19,8 Prozent im ersten Wahlgang. (Als amtierender Präsident!) Aber sein Gegner Jospin kam nicht einmal in den zweiten Wahlgang, weil ihn Jean-Marie Le Pen vom Front National überholte — mit nur 16,8 Prozent ! Nun war die politische Linke ohne eigenen Kandidaten und sah sich gezwungen, im zweiten Wahlgang für Chirac zu stimmen, der plötzlich auf 82,2 Prozent der Stimmen kam.
Wenn er trotzdem beste Chancen auf eine zweite Amtszeit hat, liegt es am französischen Wahlsystem.
Der Grund für diesen unglaublichen Sieg Chiracs war ein ideologischer, der bis heute fortwirkt. Es galt nämlich seit den 1980er Jahren ein absolutes Verbot der Zusammenarbeit mit dem rechtsextremen Front National, während alle linksextremen Parteien als akzeptabel galten. Dieses Prinzip spielte und spielt noch heute bei den Parlamentswahlen eine entscheidende Rolle. Kandidaten, die im ersten Wahlgang keine Mehrheit erhalten, müssen ihre Wähler davon überzeugen, im zweiten Wahlgang für einen der politischen Gegner zu stimmen, oder sie müssen selbst eine Empfehlung von einem politischen Gegner erhalten. Solche Wahlbündnisse werden in den Hinterzimmern der Politik getroffen.
Eine Ausnahme bildet für die gemäßigten Rechtsparteien ihre Strategie des Weder-Noch (“ni-ni”), mit der sie versprechen, weder Kandidaten des Front National noch der politischen Linken zu unterstützen. Damit wird das rechte Lager gespalten, wovon wiederum das linke Lager profitiert. Im zweiten Wahlgang verhindern die Wahlempfehlungen aus beiden Lagern, dass rechtsextreme Kandidaten gewinnen.
Diese Praxis erklärt, warum Chirac 2002 von nur 19,8 auf 82,2 Prozent hochschnellte und warum Emmanuel Macron bei seiner ersten Präsidentschaftswahl 2017 gegen Marine Le Pen, die Kandidatin des Front National, gewann. Im Ersten Wahlgang erhielt Macron nur 24,1 Prozent; im zweiten waren es dann 66,1 Prozent. Le Pen hingegen konnte sich nur von 21,3 auf 33,9 Prozent verbessern. Das heisst, jeder Kandidat, der den zweiten Wahlgang erreicht, gewinnt automatisch gegen einen Kandidaten der extremen Rechten, weil dieser oder diese keine Unterstützung durch das übrige “rechte Lager” erhält. Dieses Prinzip gilt auch für die Parlamentswahlen und erklärt, warum der Front National im Parlament sowie auf der regionalen und der kommunalen Ebene so schwach vertreten ist. Im Parlament hat er nur sieben Abgeordnete von insgesamt 577 (oder 1,2 Prozent der Sitze bei einem Drittel der Wahlstimmen in der Bevölkerung!).
Für die bevorstehenden Wahlen kommen zwei weitere Faktoren hinzu. Erstens sinkt die Wahlbeteiligung kontinuierlich. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2017 gingen 25 Prozent nicht zur Wahl, während es in den 1980er Jahren nur 15 Prozent waren. Bei den Parlamentswahlen waren es zuletzt 57 Prozent Nicht-Wähler gegenüber ca. 30 Prozent in den 1980er Jahren, bei den Regionalwahlen vom Juni 2021 sogar 66 Prozent gegenüber früher nur 20 bis 30 Prozent. Ähnlich tief sank die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen. Das heisst, es gibt einen Wettlauf der Nichtwähler zwischen den drei politischen Lagern (links, rechts, extrem rechts). Zu fragen ist: Wer von ihnen verliert die meisten Wähler? Und wem gelingt es am besten, potenzielle Nicht-Wähler zu mobilisieren?
Der zweite neue Faktor ist die Spaltung der extremen Rechten. Während bisher der Front National (seit 2017 als Rassemblement National bezeichnet) dominierte, ist mit der Sammlungsbewegung des prominenten Journalisten Eric Zemmour eine Konkurrenz zu Marine Le Pen entstanden. Seine Partei “Reconquête” (Zurückeroberung) strebt die Wiederherstellung der traditionellen französischen Nation an, die, so argumentiert man, durch Macron an die Kräfte der Mondialisierung und an eine gezielte Politik der Masseneinwanderung (“le grand remplacement”) verraten wurde. Angeblich hat Zemmours Partei bereits über 100.000 Mitglieder, während Le Pens Partei nur 83.000 angibt.
Während bisher der Front national (seit 2017 als Rassemblement national bezeichnet) dominierte, ist mit der Sammlungsbewegung des prominenten Journalisten Éric Zemmour eine Konkurrenz zu Marine Le Pen entstanden.
Viele von Zemmours Anhängern und Unterstützern kommen aus dem Lager der gemässigten Rechten, das von der republikanischen Präsidentschaftskandidatin Valérie Pécresse angeführt wird. Sie gilt vielen als zu moderat und zu schwach in den brennenden Fragen der Einwanderung, der Terrorismusbekämpfung und der Staatsverschuldung. Politisch unterscheidet sich Pécresse wenig von Macron. Das sieht Zemmour als seine Chance.
Vermutlich wird einer dieser drei Kandidatinnen und Kandidaten in den zweiten Wahlgang kommen. Dann erhält Macron sämtliche Stimmen der linken Wähler plus die Stimmen seiner Marschierer. Das dürfte ein bequemer Sieg für ihn werden. Die drei rechten Kandidaten liegen in den Umfragen jeweils zwischen 14 und 18 Prozent. Sie kämpfen derzeit verzweifelt um Wahlempfehlungen von Politikern und von prominenten Persönlichkeiten, die vermutlich darüber entscheiden, wer in den zweiten Wahlgang kommt.
Sollte Macron ohne grosse Mühe die Wahl gewinnen, werden die nachfolgenden Parlamentswahlen im Juni von besonderer Bedeutung sein. Hier ist die Macron-Bewegung vergleichsweise schwach. Hier könnten die rechten Parteien eine Mehrheit erringen, die jedoch politisch nur dann zur Wirkung käme, wenn das Weder-Noch-Dogma aufgehoben und die Spaltung der Rechten überwunden würde. Es müsste ein Zusammenschluss, eine “Union des droites”, geschaffen werden. Aber danach sieht es im Moment nicht aus. Im Gegenteil! Wenn Pécresse nicht in den zweiten Wahlgang kommt, wird sie ihren Anhängern eher Macron als Zemmour oder Le Pen empfehlen.
Sollte Macron ohne grosse Mühe die Wahl gewinnen, werden die nachfolgenden Parlamentswahlen im Juni von besonderer Bedeutung sein. Hier ist die Macron-Bewegung vergleichsweise schwach.
Somit dürfte das Parlament weiterhin schwach bleiben gegenüber der elitär-technokratisch ausgerichteten Macron-Präsidentschaft. Macron, der nie Parlamentarier oder Bürgermeister war – im Unterschied zu den meisten früheren Staatspräsidenten – hat wenig übrig für den Parlamentarismus und den Austausch mit den “kleinen Leuten”. Das bezeugte seine Reaktion auf die Massenproteste der Gelbwesten (“gilets jaunes”) zwischen 2018 und 2019. Aber es fehlt eine überzeugende Führungsfigur im gegnerischen Lager mit einem überzeugenden Programm, wie Frankreich seine wirtschaftliche Stagnation, seine hohe Staatsverschuldung und seine gesellschaftlichen Brüche überwinden kann.
Aussenpolitisch wird Macron seine Führung in der Europäischen Union ausbauen, die ihm nach dem Brexit und angesichts der deutschen Führungsschwäche zugefallen ist. Doch die aktuelle Ukrainekrise zeigt, dass die USA ihre Führungsrolle in der NATO sowie gegenüber Russland und China keineswegs aufgeben wollen. Eine europäische Grossmachtrolle der EU, von der Macron träumt, wird es deshalb nicht geben. Daran wird Macrons Wiederwahl nichts ändern.