Kurras, oder: Wie naiv sind wir?
Hat der Schuss 1967 die Republik veraendert? Ja. Wird die Enthuellung 2009 die Republik veraendern? Was genau bedeutet die Tatsache, dass die IM-Taetigkeit von Karl-Heinz Kurras nun, 43 Jahre nach dem Schuss auf Benno Ohnesorg, ans Tageslicht gekommen ist? Um genau zu sein: Wir wissen es (noch) nicht.
Heribert Prantl und andere Kommentatoren lehnen sich aber bereits jetzt ein wenig zurueck, schauen sich bei einem Glas Rotwein die alten Fotos mit dem Vergroesserungsglas an und kommen offenbar zu dem Schluss, dass diese Enthuellung gar nicht so fundamental sei fuer das bundesrepublikanische Geschichtsverstaendnis nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Berliner Polizei sei sowieso militarisiert gewesen, die Strassenschlachten im Umfeld des Schah-Besuchs haetten unabhaengig von Kurras stattgefunden, und die Szene sei in jedem Fall radikalisiert gewesen.
Das stimmt auch. Aber sind wir nicht immer noch etwas zu naiv in unserer Betrachtung? Als nach 1989 die Stasi-Akten zugaenglich gemacht wurden und “Mischa” Wolf einige wenige Interviews gab, da ging ein Staunen durch die Republik. Hat die Stasi Bonn tatsaechlich mit “Romeo-Agenten” infiltriert? Die westdeutsche Oeffentlichkeit wusste natuerlich von Guenther Guillaume, aber Guillaume galt als peinliche Ausnahme. Sie wusste nichts von den Aktenbergen, die die Stasi ueber die Bundesrepublik zusammengetragen hat. Sie wusste auch noch nichts darueber, wer im Einzelnen als IM fuer die Stasi gearbeitet hat. Als Gregor Gysis Fall bekannt wurde, ging wieder ein Staunen durch die Republik. Und, nach einer Reihe weiterer staunender Momente in den letzten 20 Jahren, staunt die Bundesrepublik wieder – ueber Kurras.
Holen wir ein bisschen weiter aus: Wie es der “Historikerstreit” in Deutschland oder die Debatte um das “Livre Noir Du Communisme” in Frankreich besonders gut veranschaulicht haben, hatte der Kommunismus als die klassische “linke” Ideologie des 20. Jahrhunderts in Europa, im Gegensatz zum Faschimus als der klassischen “rechten” Ideologie des 20. Jahrhunderts in Europa, die intellektuelle Trumpfkarte. Denkt man an Faschismus, so fallen einem sofort Hitler und Mussolini, Auschwitz und die “Endloesung” ein. Denkt man an Kommunismus, so ist die spontane Assoziation Karl Marx. Welch ein Unterschied! Natuerlich kann man auch bei der faschistischen Ideologie Grundlagenforschung betreiben, und man wird mehr oder weniger einflussreiche und mehr oder weniger vulgaerphilosophisch veranlagte faschistische Denker ausfindig machen koennen, man kann die Nietzsche-Wagner-Debatte neu zu beleben versuchen oder mal bei Ernst Juenger genau nachlesen, was er da eigentlich in seinen Stahlgewittern geschrieben hat. Aber all das ist kein Vergleich zu Marx’ Gesammelten Werken, in denen ein ganzes philosophisches System, ein vollstaendiges ideologisches Geruest entworfen wurde, das zu einem der einflussreichsten intellektuellen Stroemungen des 20. Jahrhunderts geworden ist und die geistige Atmosphaere Europas, von Adorno und Horkheimer ueber Sartre und Camus bis hin zu Bloch und Gramsci, wie kein anderes Thema beherrscht hat. Wenn man die beiden Ideologien einander gegenueberstellen will, so sieht man – etwas zugespitzt – systematisierte Intoleranz auf der einen Seite und gesellschaftlichen Humanismus auf der anderen Seite. Ein starker Kontrast. Dessen assoziative Wirkung wird nur noch verstaerkt, wenn man den Faschismus als Bewegung der kleinen Leute, der frustrierten Metzger und der dummen Postbeamten, abstempelt und zugleich im Kommunismus die Ideologie der Intellektuellen, der rauchenden Philosophen und der diskutierenden Schriftsteller, erblickt.
Genau dieses Schema der “intellektuellen Ueberlegenheit” des Kommunismus hat sich sehr tief in das Bewusstsein Westeuropas eingebrannt. Dass der real existierende Kommunismus nicht allzu viel mit jenem gesellschaftlichen Humanismus des Marxismus zu tun hatte, wird sehr oft – und 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges leider immer noch viel zu oft – einfach vergessen. Und dass bestimmte Formen des Kommunismus sogar ausgesprochen anti-intellektuell waren und die Verfolgung von Intellektuellen zum politischen Programm wie auch zur taeglichen Realitaet gemacht haben, wie dies z.B. in Rumaenien der Fall war, wissen viele Westeuropaer, die “Das Prinzip Hoffnung” in drei Tagen verschlingen, schlichtweg nicht. Es bestand im 20. Jahrhundert ein hochinteressantes Spannungsverhaeltnis, um nicht zu sagen: eine historische Dialektik, zwischen der “intellektuellen Naivitaet”, die die Rezeption des Kommunismus im westeuropaeischen Diskurs beherrscht hat, und der ausgesprochen unintellektuellen Realitaet des Kommunismus in Osteuropa. Was hat all das aber mit Kurras zu tun?
Zugegeben, der hier gespannte Bogen von einem aggressiven Berliner Polizisten zur Rezeptionsgeschichte des Kommunismus ist weit. Aber mein Punkt ist einfach: Natuerlich ist die Enthuellung, dass Kurras IM war, fundamental fuer das bundesrepublikanische Geschichtsverstaendnis nach dem Zweiten Weltkrieg. Moeglicherweise muss die Geschichte der Studentenrevolution, der RAF und der Bundesrepublik in den 60er und 70er Jahren in ganz neuen Licht gesehen werden oder zumindest viel staerker als bisher aus der Perspektive des Einflusses der DDR und der Sowjetunion auf die Bundesrepublik interpretiert werden. 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges scheint immer noch das Gespenst des harmlosen, weil intellektuellen Kommunismus um zu gehen. Die deutsche Oeffentlichkeit weiss wahrscheinlich immer noch viel zu wenig ueber das Ausmass der propagandistischen Manipulation und der Destabilisierungsbestrebungen seitens der DDR und der Sowjetunion in der Bundesrepublik. Und mit Sicherheit war jene Manipulation alles andere als naiv, sie war stellenweise wohl so meisterhaft orchestriert, dass sie vom westdeutschen Radar schlichtweg nicht erfasst wurde. Die Reaktionen auf Kurras zeigen, dass viele im Westen das historische Stadium jener “intellektuellen Naivitaet” immer noch nicht ueberwunden haben. 20 Jahre nach dem Fall der Mauer, in denen vieles zusammengewachsen ist, was zusammengehoert, wird es Zeit, diese “intellektuelle Naivitaet” zu ueberwinden!