Der Seismograph Asiens?
Milton Friedman sagte einmal, man muesse, um wahren Kapitalismus am Werk zu sehen, nur nach Hong Kong fahren.
Diachronisch zumindest hat er ja recht: Hong Kong war vor wenigen Jahrhunderten noch ein recht unbedeutendes Fischerdorf. Seit den Opiumkriegen im 16. Jahrhundert ist es ins Visier Grossbritanniens geraten. Und seit dem 19. Jahrhundert hat sich in Hong Kong eine rapide Entwicklung vom Fischerdorf zum regionalen und globalen Handelsknotenpunkt vollzogen, wie sie kaum mit einer anderen Stadt zu vergleichen ist.
Aber was ist Hong Kong heute? Der Seismograph Asiens?
Vielleicht. Zwar gibt es eine Reihe von buddhistisch-taoistischen Tempeln in der Stadt, aber der urbane Gratmesser Hong Kongs zeigt deutlich in Richtung Pragmatismus. Prosperitaet war und ist ein zentraler Wert hier, wo freier Wettbewerb, niedrige Steuern und schneller Umschlag den Markt bestimmen.
Es ist schon ein seltsames Gefuehl in den Strassen von Hong Kong: Die Doppeldecker-Busse, der Linksverkehr und die Vermeidung von Zebrastreifen zugunsten von umstaendlichen Fussgaengerbruecken sind banale Erinnerungszeichen an britische Zeiten. Die hektischen Maerkte, der Neondschungel und die gebratenen Enten im Schaufenster sind unverkennbar chinesischer Praegung. Aber dann gibt es da noch unter anderem die aufdringlichen arabischen Anzugsverkaeufer in Tsim Sha Tsui, die groelenden Amerikaner in den Irish Pubs von Wan Chai, die indischen Haendler und die Geschaeftsleute aus Israel. Wenn Hong Kong wirklich der Seismograph Asiens ist, dann muss der gesamte Kontinent recht kosmopolitisch sein. Ob das der Fall ist, bin ich mir nicht sicher. Vielleicht ist Hong Kong mindestens so sehr Idee wie Realitaet — ein asiatisches New York quasi.
In jedem Fall schaut Hong Kong nach vorn — weniger kontemplativ als vielmehr aktiv ist das Lebensgefuehl hier. Westlich ist die Stadt allemal — vielleicht etwas unreflektiert westlich, wenn man die gnadenlose Konsumueberzeugung zugrunde legt, die die Banken und Versicherungen, die chinesischen, amerikanischen und europaeischen Technologiekonzerne und die Restaurants ueberall verspruehen.
Zugleich aber ist Hong Kong asiatisch: Sprache, Sitten und Religion sind chinesisch dominiert, und obwohl offiziell Zweisprachigkeit herrscht, gibt es zahlreiche Stadtteile, wo de facto nur Chinesisch gesprochen, geschrieben, gelesen und gegessen wird.
Aus der westlichen Perspektive erscheinen viele Dinge fremd — und das am vermeintlich westlichsten Fleck Asiens. Ein Grund hierfuer duerfte darin bestehen, dass Hong Kong nach seiner Unabhaengigkeit von Grossbritannien 1997 seinen eigenen Weg gegangen ist: Zwar galt auch fuer Hong Kong das chinesische Gebot “ein Land, zwei Systeme” — in Wirklichkeit aber ist Hong Kong wohl seit 1997 seinem Sonderstatus treu geblieben, der von chinesischem Einfluss, britischer Handelsrationalitaet und internationalem Flair gepraegt ist.
Wenn man so will, ist die Stadt vielleicht die derzeit schillerndste Verkoerperung des “Asian Dreams” — des Lebensgefuehls der Selbstverwirklichungsgeneration in einer von kollektiven Strukturen gepraegten Region.
Hong Kong — ein schillernder Seismograph Asiens?