Happy Birthday Deutsches Grundgesetz!
Das Grundgesetz feiert dieses Jahr seinen 60. Geburtstag. Ueberall in Deutschland gibt es Kundgebungen, es erscheinen fast taeglich Artikel in verschiedenen Publikationen, und im Fernsehen gibt es eine Reihe von Diskussions- und Dokumentarbeitraegen zum Thema. Was bedeutet dieser Geburtstag eigentlich? Ich moechte einen symbolischen Punkt herausgreifen.
Ideell war das Grundgesetz die rechtsstaatliche Antwort Deutschlands auf den Zweiten Weltkrieg und das Naziregime. Verfassungen oder anders genannte Grundlagendokumente eines verfassten Staates bergen – jenseits des juristischen Regelungsgehalts – auch eine Reihe von historischen, soziologischen oder gar kulturgeschichtlichen Elementen in sich. Einige Beispiele:
“Es gibt keinen Adel mehr, keinen Hochadel, keine erblichen Unterschiede, keine Standesunterschiede, keine Lehnsherrschaft, keine Patrimonialgerichtsbarkeiten, keine Titel [und keine] Vorrechte […] Fuer keinen Teil der Nation, fuer kein Individuum gibt es mehr irgendein Privileg oder eine Ausnahme vom gemeinsamen Recht aller Franzosen.” So steht es etwa in der historischen franzoesischen Verfassung von 1791. Jene Verfassung war ein Instrument des radikalen Bruchs mit der Vergangenheit. Die negative Sprache spiegelt die Ablehnung des Gewesenen wider.
“The purpose of this Basic Law is to protect human dignity and liberty, in order to anchor in a Basic Law the values of the State of Israel as a Jewish and democratic state.” Artikel 1a des israelischen Grundgesetzes zur Menschenwuerde und Freiheit birgt gewissermassen die Gruendungsformel des Staates Israel in sich. Israel ist 1948 als juedischer Staat ins Leben gerufen worden. Waehrend im deutschen Grundgesetz formelhaft vom demokratischen und sozialen Rechtsstaat die Rede ist, definieren die israelischen Grundgesetze Israel als juedischen und demokratischen Staat. Das in den Grundgesetzen angesprochene ethno-religioes-kulturelle Tripelkonzept des Judentums legt den Kern des staatlichen Selbstverstaendnisses von Israel an den Tag. Als Fussnote mag man bemerken, dass konzeptionell natuerlich diese Formel einen Friedensprozess mit (islamischen oder christlichen) Arabern nicht einfach macht.
“We the people of the United States, in order to form a more perfect union, establish justice, insure domestic tranquility, provide for the common defense, promote the general welfare, and secure the blessings of liberty to ourselves and our posterity, do ordain and establish this Constitution for the United States of America.” Diese in der Verfassung niedergelegte “We the people”-Formel der Gruendungsvaeter ist das herausragende Kennzeichen des amerikanischen Staats- und Kulturverstaendnisses: Etwas Neues wurde geschaffen in der ehemaligen Kolonie, mit viel Dynamik und Pioniergeist wurden hier die Fundamente einer vermeintlich besseren Welt gelegt, gegruendet auf den Idealen von Freiheit, Individualismus und Selbstverwirklichung. Dieser amerikanische Traum lebt bis heute fort.
Was haben wir aber im Grundgesetz? “Die Wuerde des Menchen ist unantastbar.” Dieser Satz in Artikel 1 hat Geschichte gemacht. Diese sechs Worte spiegeln in bewundernswerter Dichte den ueberragenden Wert der Menschenwuerde wider, den das Nachkriegsdeutschland den Erfahrungen von 1933-1945 entgegensetzen wollte. Auch das Grundgesetz ist ein Zeichen des Bruchs mit der Vergangenheit. Aber im Gegensatz zu dem detaillierten negativen Stil der franzoesischen Verfassung, die all die verworfenenen Institutionen des Ancien Régime aufzaehlt, bekennt sich das deutsche Grundgesetz in eindrucksvoller Kuerze zu dem Wert, der 12 Jahre lang mit Fuessen getreten wurde. Es ist bezeichnend, dass es eine wahre Flut juristischer Literatur zu der Auslegung dieser sechs Worte gibt. Aber fest steht, dass der Menschenwuerde im Gesamtkonzept des Grundgesetzes stets eine ganz besondere Bedeutung zukam und zukommt. Von diversen Beleuchtungstechniken ist da die Rede, wenn es in Kommentaren heisst, andere im Grundgesetz garantierte Grundrechte seien “im Lichte von Artikel 1” auszulegen. Es ist gut, dass es dieses Licht im Grundgesetz gibt. Denn dieses Licht hat es ermoeglicht, dass seit dem Ende der vierziger Jahre eine stabile rechtsstaatliche Ordnung in Deutschland aufgebaut wurde. Dieses Licht hat Deutschland in seiner Geschichte nicht immer gehabt.