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Buenos Aires sehen und nachdenken

GB Geo-Blog

Buenos Aires sehen und nachdenken

Fuer die, die es nicht wissen: “Argentinisches Tageblatt” ist keine als verspaeteter Aprilscherz verfasste Hausmitteilung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ueber den wichtigsten journalistischen Konkurrenten 2009 und auch kein Fantasiegebilde aus einem oesterreichischen Fernsehfilm der 60’er Jahre, sondern die deutschsprachige Tageszeitung von Buenos Aires. In der letzten Freitagsausgabe wurden die bevorstehenden Feierlichkeiten in Berlin zur Begehung des 60. Geburtstags der Bundesrepublik mit viel Sinn fuer Stil und Details beschrieben. Da war auch die Rede von Daniel Barenboim, dem Musikgenie und “Enfant Terrible” unter den Dirigenten des 20. und 21. Jahrhunderts, der in Berlin im Zusammenhang mit den Jubilaeumsfestivitaeten auftritt – mit gutem Grund, leitet er doch nicht nur seit vielen Jahren die Staatskapelle in Berlin, sondern dirigierte auch ein Beethoven-Konzert in Berlin (zufaellig) nur wenige Tage nach der Wiedervereinigung 1989. Ich weiss nicht, ob Sie es wussten: Daniel Barenboim ist urspruenglich Argentinier, er ist in Buenos Aires geboren und hat dort seine Kindheit verbracht. Und ueberhaupt liesse sich die Liste der zahlreichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Querlinien zwischen Deutschland und Argentinien beliebig weiterfuehren. Klingt doch etwas ueberraschend auf den ersten Blick, oder?

Ja, sagt der von Stereotypen beseelte Leser: Da haben wir die hart arbeitenden, praezisen und trockenen Deutschen auf der einen Seite, die um Punkt 7:30 Uhr eine Scheibe Vollkornbrot zum Fruehstueck einnehmen, und die nicht so hart arbeitenden, leidenschaftlichen und charmanten Argentinier auf der anderen Seite, die kurz vor Mitternacht Steak essen, Malbec trinken und Tango tanzen. Da haben wir, mit anderen Worten, Lothar Matthaeus und Diego Maradona, wie sie sich 1986 bei der Fussball-Weltmeisterschaft in Mexiko im Finale gegenueberstanden – oder aber, fuer die, die aus bestimmten Gruenden das Finale von 1990 vorziehen, Andreas Brehme und Sergio Goicoechea.

Aber so eindeutig ist das ja alles zum Glueck nicht: Denn was Goethes “Italienische Reise” als das tiefe Verlangen der Deutschen nach dem im eigenen Land in jener Form schlichtweg nicht auffindbaren Laissez-Faire des warmen Suedens kuenstlerisch sublimiert, ist auf der profanen Ebene des Alltags allgegenwaertig: Deutsche fuhren und fahren sehr gern nach Argentinien in den Urlaub und noch mehr: Deutsche zogen und ziehen immer wieder nach Argentinien. Zwar waren die grossen europaeischen Einwanderungswellen in Argentinien im 19. Jahrhundert mehrheitlich italienisch und spanisch (und franzoesisch) gepraegt. Daher sehen sich viele Argentinier ja auch als Italiener, die spanisch sprechen und denken, sie lebten in Frankreich. Aber auch die deutsche Kultur hat sehr wohl Fuss gefasst. Spaziert man durch die Strassen von Buenos Aires, sieht man neben auffaellig vielen Werbeplakaten fuer ein beliebtes deutsches Bier auch deutsche Fahnen in Souvenirlaeden, das Restaurant “Achtung” in San Telmo und Werke von Goethe, Wagner und Schopenhauer in den Schaufenstern gemuetlich-verstaubter Antiquariate. Und man sieht das “Argentinische Tageblatt” am Kiosk. Diese oberflaechlichen Eindruecke des unbedarften Beobachters legen natuerlich die Frage nahe, wer das “Argentinische Tageblatt” eigentlich liest. Unter den Kleinanzeigen finden sich in der entsprechenden Rubrik auffaellig viele Eintraege fuer Altersheime mit dem ausdruecklichen Hinweis “Man spricht deutsch.” Ist etwa Buenos Aires zum heiteren Eldorado, zum neuen Malaga oder Phuket fuer germanische Pensionaere geworden?

Denkt man etwas weiter und rechnet nach, dann draengt sich freilich die etwas weniger witzige Frage auf, was die aelteren deutschen Pensionaere eigentlich gemacht haben, als sie noch nicht Pensionaere waren, genauer gesagt, vor 65 oder 70 Jahren? Waren sie in der NSDAP oder gar in der SS? Die wahrscheinlichste Antwort: Einige ja, einige nein, die anderen sprechen nicht ueber jene Zeit. Bekanntlich sind viele Nazigroessen kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Paraguay, Uruguay und Argentinien abgetaucht. Die spektakulaere Ergreifung von Ricardo Clement (besser bekannt unter seinem richtigen Namen Adolf Eichmann, Leiter des “Judenreferates” im Reichssicherheitshauptamt und verantwortlich fuer Planung und Durchfuehrung der “Endloesung der Judenfrage”) durch israelische Geheimdienste in Argentinien unter Leitung von Rafi Eitan, der heute der israelischen Rentnerpartei vorsitzt, machte seinerzeit Schlagzeilen. Auf die Frage, wie viele Clements es heute noch in Argentinien gibt, kann indes wohl keiner eine klare Antwort geben.

Das Interesse an ihnen scheint aber zu schwinden. Deutschland ist zwischenzeitlich demokratisch geworden, Israel hat genug Sorgen mit Iran und Argentinien? Argentinien hat sehr viel Nationalstolz. Wie Deutschland. Die “argentinidad” ist allgegenwaertig in dem Flaggenmeer an den Haeusern von Buenos Aires, in den Statuen der Politiker und Generaele, die Buenos Aires’ Strassen saeumen, und in der Nationalhymne. Aber dieser Nationalstolz ist getruebt, und in der oekonomischen Realitaet des ersten Jahrzehnts nach der Wirtschaftskatastrophe 2001/2002 durchziehen Korruption und Buerokratie das Land wie eh und je, waehrend Brasilien, der andere geografische Gigant Suedamerikas, wirtschaftlich von der gegenwaertigen Krise ueberraschend wenig beruehrt wird und schier unaufhaltsam die erfolgreiche Politik der starken Waehrung und der globalen Oeffnung weitertreibt. Wenn es um das finanzielle Ueberleben geht in der 18 Millionen-Metropole, die nicht nur den eleganten Recoleta-Bezirk, sondern auch Elendsviertel in Boca ihr eigen nennt, dann kuemmert sich keiner mehr um den grandiosen Borges oder den phaenomenalen Fangio, die Argentinien zu Weltruhm verhalfen, oder um die ideelle Anziehungskraft des faschistischen Dreiklangs aus Staerke, Organisation und Fanatismus (ob diese Anziehungskraft nun etwas genuin Deutsches hat oder nicht) – oder um die Clements eben. Dies umso mehr als Argentinien – zusaetzlich zum aussenpolitischen Schreckerlebnis des Falklandkriegs – immer noch mit seinem eigenen totalitaeren Trauma der Diktatur von 1976 bis 1983 kaempft, als etwa 30000 Argentinier, tatsaechliche oder vermeintliche Regimegegner, von einem Tag auf den anderen einfach “verschwanden” und das Schicksal von vielen bis heute ungeklaert ist. Es ist die erdrueckende Erfahrung von Tod, Verantwortung und Schweigen, die 30 Jahre spaeter ueber den Strassen von Buenos Aires liegt.

Diese Erfahrung des historischen Traumas ist eine weitere Querlinie zwischen Deutschland und Argentinien. Vielleicht wird es noch ein paar Jahre dauern, bis Daniel Barenboim Aida im Teatro Colón dirigieren wird.

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